Alle Welt fordert Vertrauen. Banken und Versicherungen, Automobilbauer und Flugzeughersteller, Freunde und Lebenspartner, Mitarbeiter und Vorgesetzte, Kinder und Eltern. Der Psychologe sucht das Urvertrauen, der Philosoph fragt nach dem Weltvertrauen, der Gläubige lebt im Gottvertrauen und der gemeine Mensch ringt um sein Selbstvertrauen. (Nicht nur) Regierende stellen die Vertrauensfrage, vielleicht auch, weil sie wissen, dass ein Leben ohne Vertrauen vor allem Chaos, Lähmung und Angst bereithält. Nur wer Vertrauen erweist, sagt uns Niklas Luhmann, nimmt Zukunft vorweg. Er handelt so, als ob er der Zukunft sicher wäre.
Konjunktur hat indessen das Reden von den Risiken der Gesellschaft. Die Programme von Parteien, Religionsgemeinschaften, NGO’s und sonstigen Interessengruppen kennen vor allem die Gefährdungen dieser Welt und bieten ihre Patentrezepte an. Sie schaffen Sicherheit durch Misstrauen, sozusagen als Vorbereitung auf eine Welt, wie sie denn wirklich sei…und laufen damit Gefahr, die fraglose Gültigkeit und ein implizites, fungierendes Vertrauen in den selbstverständlichen, menschlichen Alltag abzulösen durch eine Problematisierung und einen pseudoaltruistischen Risikodiskurs.
So wie Watzlawick immer wieder an die Möglichkeit erinnerte, daß gerade die gewählte Lösung für die Stabilisierung des Problems verantwortlich sei, so versuchen viele der Mahner und Warner, nachdem sie ein hinreichendes Misstrauen geschaffen haben, uns ihre Lösungen und Leistungen anzubieten. Zumindest sehen so die Argumentationsstränge vieler (Sicherheits-) Dienstleister in Umwelt und Finanzwirtschaft, Medizin und Politik aus. Unhinterfragte Vertrautheit wird zunehmend ins Private und in persönliche Beziehungen gedrängt, während auf gesellschaftlicher und organisationaler Ebene die Grenzen von vertraut und unvertraut verschwimmen und erodieren.
Eine unserer landläufigen impliziten Grundannahmen über das Leben ist, dass wir im Normalfall in einer gerechten Welt leben, in der jeder bekommt, was er verdient und jeder verdient, was er bekommt. Soziologen betrachten diese Unterstellung als mehr oder minder lebensnotwendig, denn nur in einer gerechten Welt können Menschen langfristig zielgerichteten Aktivitäten nachgehen und Vertrauen in andere Menschen und gesellschaftliche Instanzen aufbauen. Wird diese Erwartung fraglich oder durch alltägliche Beobachtungen angezweifelt, dann sind Menschen eher bestrebt, ihren ursprünglichen Gerechtigkeitsglauben bei zu behalten und vor Anfechtungen und vor Widerlegungen zu schützen. Man könnte auch sagen, das Vertrauen (wollen) entspringe der Sehnsucht nach einer uns wohlgesinnten Wirklichkeit.
Ein paradigmatisches Beispiel hierfür ist die biblische Geschichte von Hiob, die vor etwa 2500 Jahren entstand. Sie wurde in das Alte Testament aufgenommen und hat ihre Spuren auch in Dante’s Göttlicher Komödie und im Prolog zu Goethes Faust hinterlassen. Hiob gilt als das älteste schriftlich überlieferte Drama mit fortschreitender Handlung. Das ganze Geschehen spielt sich innerhalb weniger Stunden an Hiobs Krankenlager ab:
Hiob, ein ebenso rechtschaffener wie gut situierter Mann, wird, ohne es zu wissen, zum Gegenstand einer Wette zwischen Gott und Teufel. Dabei erreicht in eine „Hiobsbotschaft“ nach der anderen: Er verliert nicht nur sämtliche Habe, sondern auch fast seine ganze Familie und wird schließlich selbst von schwerer Krankheit befallen. In langen Wechselreden mit 4 Freunden wird nun über dieses Schicksal gerechtet. Irgendetwas, beschließen seine Freunde, muss Hiob sich zu Schulden kommen gelassen haben, sonst ginge es ihm nun nicht so schlecht. Hiob dagegen, sich keiner Schuld bewusst wähnend, klagt Gott an, dass dieser ihn mit einem so unverdienten Schicksal bestraft. Beide Seiten aber, Hiob und seine Freunde, scheinen das Gleiche im Hinterkopf zu haben, eine feststehende Gleichung nämlich nach der Unglück und Krankheit immer Zeichen von Schuld, Sünde oder moralischer Verwerflichkeit sind, während Glück und Wohlstand sichtbarer Ausdruck von Rechtschaffenheit und einer Gott gefälligen Lebensführung sind. Beides zusammen macht ihre Idee von Gerechtigkeit aus. In langen weitschweifigen Argumentationen gelingt es Ihnen nicht, eine gemeinsame Sicht der Dinge zu finden. Am Ende muss Hiob die grenzenlose Allmacht Gottes anerkennen und unterwirft sich seinem Schicksal ohne Ansprüche anzumelden. Für dieses Vertrauen wird er nun doch wieder belohnt und in einem Happy End erhält er nicht nur mehr als den alten Reichtum zurück, sondern auch 3 neue Töchter, „Täubchen, Zimtblüte und Schminkhörnchen“ mit Namen, und stirbt 140 Jahre später „hochbetagt und satt an Lebenstagen“.
Die Geschichte von Hiob ist ein Arche-Typus für das Vertrauen, aber sie zeigt auch, wie man durch unterschiedliche Perspektiven nicht zu einer gemeinsamen Wahrnehmung und Lösung kommen kann: Die Freunde suchen die Erklärung bei Hiob und seinem Verhalten, während er selbst in seiner Umwelt vergeblich nach einer Antwort sucht. Wird Hiob, der von Gott ungerecht Geschlagene, all seiner Güter Beraubte, dessen Kinder gestorben sind, auf die Worte seiner Frau hören und sich gegen Gott erheben oder wird er sich in das Unvermeidliche fügen? Erst als Hiob sich ohne Vorbedingung in Gottes Hände begibt und nur noch ihm vertraut, widerfährt ihm die Erlösung.
Vertrauen ist mindestens seit dem Alten Testament ein konstitutives Merkmal von Organisationen und Gesellschaften und beschäftigt seither Theologen, Philosophen, Soziologen, Psychologen, aber auch Volks- und Betriebswirte aus unterschiedlichen Perspektiven, aber mit ähnlichen Zwecken. Der Mensch kann buchstäblich keinen einzigen Schritt machen, ohne in irgendeiner Hinsicht Vertrauen aufzubringen. Man kann keinen Fuß vor den anderen setzen ohne das Vertrauen, dass nicht die Erde unter dem nächsten Schritt einbricht.
Die konstitutionelle Ökonomik hat die Bedeutung von Regeln für die gesellschaftliche Kooperation herausgestellt, ebenso wie wir anderen Straßenverkehrsteilnehmern vertrauen müssen, dass sie die Regeln der Straßenverkehrsordnung einhalten; ohne Regelvertrauen kollabiert am Ende jede Organisations- und Gesellschaftsform, jegliches Miteinander. Grundsätzlich müssen also alle Entscheidungen, die in sozialen Situationen getroffen werden, auf Vorhersagen basieren, die wiederum nicht auf konkreten Informationen, sondern auf Vertrauen oder Misstrauen beruhen. Sonst herrscht Anarchie.
Aus einer soziologischen Perspektive hat sich vor allem Niklas Luhmann mit dem Vertrauen auseinandergesetzt. Er unterscheidet dabei zwischen Vertrautheit und Vertrauen, zwischen Vertrauen und Hoffnung und zwischen Vertrauen und Misstrauen. Aus seiner Perspektive ist die wesentliche Qualität von Vertrauen die Fähigkeit zur Reduktion sozialer Komplexität. Eine wichtige Eigenschaft von Vertrauen, also letztlich dem Ersetzen von (nicht gegebener) äußerer Sicherheit durch innere Sicherheit und somit einer Verschiebung des Risikos, ist die Tatsache, dass „Menschen und soziale Einrichtungen, denen man vertraut, besonders störempfindlich sind und gleichsam jedes Ereignis unter dem Gesichtspunkt der Vertrauensfrage registrieren“.
Die Herstellung von Vertrauen ist daher eher ein langsamer Prozess, der in einer wiederholten, riskanten, wechselseitigen Vorausleistung und Aufteilung von Komplexität begründet ist, während jede Störung sehr schnell als solche interpretiert wird und zum Verlust von Vertrauen führt.
Luhmann hat das Konzept des persönlichen Vertrauens um das System-Vertrauen erweitert. Dieses baut auf standardisierten Normalitäten von Situationen auf und läuft sehr viel anonymer ab. Die klassischen Bereiche dieses System-Vertrauens sind Geld (im Sinne von Währung), die durch die öffentlichen Institutionen vermittelte Wahrheit und deren Umgang mit der Macht. In Übereinstimmung mit (allen) anderen soziologischen und psychologischen Schulen hält auch Luhmann fest, dass Vertrauen viel leichter in Misstrauen verwandelbar ist als umgekehrt. Aktuell wird dies in besonderem Maße sichtbar mit der Inszenierung und Überhöhung von „fake news“ Bedrohungen.
Psychologen haben den Vertrauensbegriff noch weiter ausdifferenziert und, getrieben aus der Therapieforschung, eine Trias des Vertrauens formuliert: Vertrauen in mich selbst (Selbstvertrauen), Vertrauen in andere (Menschen und Institutionen) und Vertrauen in die Zukunft (meine eigene Existenz und der mir wichtigen Anliegen).
Selbstvertrauen ist eng mit der Erfahrung über die (eigene) Selbstwirksamkeit verknüpft. Schon im vierten Lebensjahr empfinden wir Freude und Stolz über ein gelungenes Werk und Enttäuschung oder Beschämung über einen Misserfolg; wir erklären das Ergebnis unseres Handelns mit der eigenen Tüchtigkeit und entwickeln schon in diesem Alter einen Sinn für Wettbewerbssituationen. Vorpubertär kommt dann die Erfahrung mit Beherrschung (Kompetenzerleben) versus Unterlegenheit (Minderwertigkeitserleben) hinzu. Offenkundig ist heute die enge und ursächliche Verbindung zwischen Selbstvertrauen und Leistungsmotivation. Wenn wir also im persönlichen, organisationalen oder politischen Bereich des Einsatzwillens und der Leistung bedürfen, ist aller Belohnungsdebatten zum Trotz der Königsweg über (Selbst) Vertrauen vorgezeichnet.
Das Vertrauen in andere oder das interpersonale Vertrauen bezieht sich auf die Erwartung eines Menschen (oder einer Gruppe) ,dass man sich auf das Wort, die Versprechen, die verbalen oder geschriebenen Aussagen anderer Individuen, Gruppen oder Institutionen verlassen kann. Analog zum Selbstvertrauen werden auch hier frühkindlich die wesentlichen Voraussetzungen geschaffen oder unterlassen, sich sozial binden zu können und das Explorationsverhalten zu entwickeln. (Nur) wer anderen vertrauen kann, wird sich neugierig mit dem noch nicht vertrauten auseinandersetzen und für eine Erweiterung der Perspektiven und für Innovation stehen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang noch die Abgrenzung zur Leichtgläubigkeit, bei der wesentliche situativ vorhandene Hinweise übersehen werden, die ein Aufrechterhalten des Vertrauens nicht mehr rechtfertigen sondern durch Naivität oder ideologisch fixierten Glauben bedingt sind („davon will ich gar nichts wissen“).
Das Vertrauen in die Zukunft ist der positive Gegenpart zur Hoffnungslosigkeit. Zukunftsvertrauen bezieht sich nicht nur auf die persönliche Zukunft, sondern auch auf die der Angehörigen und Freunde, der Organisationsmitglieder und Kollegen, der Nation, Gesellschaft und der Menschheit allgemein. Die wesentlichen Grundlagen werden nachpubertär in der Adoleszenz gelegt, wo sich persönliche und soziale Zielorientierungen heranbilden, die eine Einübung unterschiedlicher sozialer Rollen ermöglichen, identitätsstiftend sind und bei der Lösung und Bewältigung von Krisen helfen. Milton Erikson und andere Psychologen unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen einer erarbeiteten und einer übernommenen Identität und verweisen auf die Unterschiede in der Stabilität bei substantiell bedrohlichen Situationen. Zukunftsvertrauen ist damit auch konstitutiv für eine persönliche Identität und Selbstbewußtsein in jedweden sozialen Umfeldern und die daraus gespeiste persönliche und soziale Sicherheit.
Die enge Verzahnung dieser drei Vertrauenskomponenten und ihre offenkundige Wechselwirkung machen deutlich, dass Vertrauenskrisen immer ausgelöst werden, wenn eine der 3 Vertrauenskomponenten fraglich ist. Die möglichen Auswirkungen auf die Führung in Wirtschaft und Politik sind evident, aber noch viel zu selten unter dem Aspekt der Vertrauens-Trias angegangen worden.
Auch die Hirnforschung hat sich in den letzten Jahren intensiv mit dem Vertrauen auseinandergesetzt und nicht nur die Hirnregion gefunden, in der sich das Vertrauen bemerkbar macht. So löst anscheinend die Bestrafung eines Menschen, der das eigene Vertrauen missbraucht hat, tatsächlich ein Gefühl des Wohlbefindens aus, denn es aktiviert das Belohnungszentrum im Gehirn. Auch konnte belegt werden, dass all jene, die ihren eigenen Fähigkeiten nicht vertrauen, anfälliger für Krankheiten sind. Nachdenkenswert ist auch, dass Menschen, die ihrer eigenen Intuition vertrauen, auch Lügen und Lügner deutlich schlechter erkennen können, ebenso wie die Einschätzung von Vertrauenswürdigkeit eines Gegenüber von Sympathie bestimmt wird, nach der Formel sympathisch gleich vertrauenswürdig. Interessant ist auch der Punkt, dass den Menschen, die einem ähnlich sehen, mehr vertraut wird als denen, die unähnlich sind.
Franz Kafka schrieb in einem Brief an seinen Vater:
Das Misstrauen, das Du mir in Geschäft und Familie gegen die meisten Menschen beizubringen suchtest (nenne mir einen in der Kinderzeit irgendwie für mich bedeutenden Menschen, den Du nicht wenigstens einmal bis in den Grund hinunter kritisiert hättest)… dieses Misstrauen, das sich mir Kleinem für die eigenen Augen nirgends bestätigte, da ich überall nur unerreichbar ausgezeichnete Menschen sah, wurde in mir zu Misstrauen zu mir selbst und zur fortwährenden Angst vor allen andern…Übrigens hatte ich in… meiner Kinderzeit noch einen gewissen Trost eben im Misstrauen zu meinem Urteil; ich sagte mir:“ Du übertreibst doch, fühlst, wie das die Jugend immer tu, Kleinigkeiten zu sehr als große Ausnahmen“. Diesen Trost habe ich aber später bei steigender Welteinsicht fast verloren.
Picasso hingegen hörte von seiner Mutter:
Wenn Du Soldat wirst, bringst Du es zum General. Wenn Du Mönch wirst, machen Sie Dich zum Papst.
Eine Nemesis der Zuversicht kann Familien, Organisationen und Nationen krank machen. Wo das Vertrauen sinkt, entschwindet die Neugier und wie will man noch Schönes erfahren, wenn man Schönes nicht mehr erwartet. Wo kein Vertrauen geschenkt wird, regiert der Verdacht. Wo der Verdacht herrscht, gerät man in Legitimationszwänge. Wo Legitimationszwänge das Zusammenleben beschränken, offenbaren sich Rechtfertigungsnöte. Wo Rechtfertigungsnöte auftauchen, ist Kontrolle nicht mehr fern. Wenn Kontrolle installiert ist, verlangt sie Transparenz. Dann wird Transparenz als Ersatzvertrauen deklariert und produziert als freiwilliger Zwang ihr eigenes Absurdistan.
Bei der Analyse von Talk Shows, öffentlichen Interviews nach Wahlen und Gerichtsverhandlungen oder Anhörungen bei Untersuchungsausschüssen ist vor allem die völlige Abwesenheit von Demut offensichtlich. Wer noch einmal lernen will, was dies eigentlich sei und was Demut mit Vertrauen zu tun hat, der lese Joseph Roths „Hiob. Der Roman eines einfachen Mannes“. Für den französischen Philosophen Raymond Aron ist Hiob ein existentielles Buch, das den Bedürfnissen einer Zeit wie der unseren entspricht, die alles in Frage gestellt sieht. Sein Zweck ist nicht, Antworten zu geben, sondern den Menschen so stark zu machen, dass er sie selbst finden kann.
Wie könnte man Vertrauen besser definieren?
*mit vielen Ideen und Herzblut von Mirco Striewski