Geschichten über Führungskräfte und solche, die keine sein wollen (Dr. Simon Geisler & Rainer Wagner)
Und dann war da noch der Leiter der Buchhaltung, der – nach seinem Führungsstil gefragt – fröhlich kundtat, zum Glück müsse er gar nicht führen: „Wir verstehen uns alle so gut!“. Wenig später antwortete der Leiter der Logistik, ein ehemaliger Soldat, auf dieselbe Frage kurz und knapp, er führe seine Leute „eng“. Was das bedeutete, konnten wir kurz darauf beobachten. Der Leiter der Logistik machte nämlich so gut wie all das selbst, was auch nur so aussah, als könnte es anspruchsvoll sein. Die regelmäßigen Kuren, die er wegen allgemeiner Erschöpfung deshalb benötigte, konnten glücklicherweise durch einen aufgeweckten Assistenten aufgefangen werden.
Der resignierte Geschäftsführer, nach seinem Eindruck gefragt, lächelte müde und antwortete mit einem längeren Satz, in dem es umfänglich um Nasen und Tische ging, auf denen in der Buchhaltung zum Gaudium mehr oder minder der gesamten Organisation getanzt werde. Bevor er etwas zur Logistik sagen konnte, klingelte das Telefon.
Fairerweise muss gesagt werden, dass beide – der Leiter der Buchhaltung und der Logistikleiter – mit ihrer Haltung nicht alleine stehen. Beide sind – wie das Alte Testament über den Teufel sagt – Legion.
In verschiedensten Projekten begegnen sie uns deshalb immer wieder. Führungskräfte, die keine sind, weil sie letztlich keine sein wollen, auch wenn sie das selbst weit von sich weisen würden. Führung hat viel mit Kommunikation zu tun. Vermutlich gilt deshalb auch für Führungskräfte – in leicht abgewandelter Form – die alte Watzlawick‘sche Kommunikationsmaxime: Man kann – als Führungskraft – nicht nicht führen. Selbst wenn man es – wie der Leiter der Buchhaltung und auf seine Weise auch der Logistikleiter – immer wieder versucht: Innerhalb einer auf die Erreichung bestimmter Ziele ausgerichteten Organisation bleibt die Leerstelle Führung schmerzhaft offen, wenn sie nicht gefüllt wird. Die Notwendigkeit, aktive Führungsarbeit zu leisten, ist der Organisation eingepflanzt. Und sie erhebt sich irgendwann wie ein böser Geist, wenn man sie standhaft ignoriert.
Denn was beide Führungskräfte eint, ist das irrige und letztendlich gefährliche Bestreben, die ihrer jeweiligen Position geschuldete Führungsarbeit durch etwas jeweils anderes, vermeintlich Einfacheres und Sichereres zu ersetzen. Der Leiter der Buchhaltung überzeugt sich selbst täglich davon, distanzlose Freundlichkeit und laissez-faire würden das Setzen und Nachhalten von Zielen und das Durchsetzen von Standards ersetzen und ihm Konfrontationen ersparen. Der Logistikleiter macht hingegen lieber gleich alles selbst, um das Risiko des Delegierens und die aktive Entwicklung seiner Mannschaft und die damit verbundenen Risiken zu vermeiden.
Führung in dreifacher Ausfertigung
Ob er will oder nicht, wird der Berater im Projekt notwendig mit der Art der Führung seiner Kunden konfrontiert. Er muss sich mit der Art und Weise, mit der seine Partner auf Kundenseite im Projekt ihre Mitarbeiter führen, zwangsläufig auseinandersetzen. Auf diese Weise erfährt und lernt er notgedrungen viel über Führung. Gute Führung auf Seiten des Kunden kann ein Projekt deutlich erleichtern. Unwirksame Führung auf Seiten des Kunden kann ein Projekt in letzter Konsequenz scheitern lassen. Der Berater kommt also am Thema Führung nicht vorbei.
Um als Berater über Führung zu sprechen, behelfen wir uns mit einem einfachen Dreischritt. Denn Führung hat nicht nur mit Mitarbeitern zu tun. Sie fängt vielmehr direkt bei dem an, der führt. Es geht daher zunächst um
- Die Führung der eigenen Person
Als nächstes geht es – wer hätte das gedacht? – um dasjenige, dessentwillen geführt wird, also um
- Die Führung des Geschäfts
Und schließlich – da kommen die Tische, auf denen getanzt wird, ins Spiel – geht es natürlich um
- Die Führung anderer
Alle drei Aspekte hängen untrennbar zusammen, bedingen und beeinflussen sich gegenseitig – und machen genau deshalb die Sache so schwierig, wie sie leider nun einmal ist.
Um die Dinge nicht unnötig zu verkomplizieren, bietet es sich daher an, ein Projekt – in dem es, wie gesagt, immer auch um Führung geht – ehrlicherweise als das zu sehen, was es letztlich ist: Ein Western alter Schule.
Warum sind Projekte Western?
Worum geht es im Western? Der Western – auch in seiner abgeklärten, späten Ausprägung – ist ein Film über den weiten leeren Raum, der vom Menschen sinnvoll gefüllt sein will. Der weite, leere Raum, das ist John Fords Monument Valley, das sind die Salzwüsten und die endlose Prärie mit ihren Büffelherden. Gefüllt wird dieser Raum mit Blockhütten, kleinen, windschiefen Städtchen, ihren Saloons, Freudenhäusern und Spielhöllen, mit Eisenbahnen, Bergwerken und Viehherden. Gefüllt wird er darüber hinaus mit Regeln, mit Gesetzen und Mechanismen zu deren Durchsetzung, mit praktischer Autorität, mit einem männlichen Ehrenkodex und Vorstellungen von weiblicher Treue und Tugend.
Weil dieser Raum so weit und leer ist, die Lebensbedingungen in ihm hart und die Entfernungen schier endlos sind, ist der Füllmodus immer ein gewaltsamer. Es kommt ständig zu Konflikten, mit Naturgewalten, mit Ureinwohnern, mit anderen Siedlern, mit Gesetzlosen und skrupellosen Oligarchen. Im Western werden gewaltsam Selbstbild, Sprache und Gestus einer noch sehr jungen Nation erfunden, die heute nicht mehr ganz so jung ist. Vieles wird zum ersten Mal getan und das meiste unter extremen Bedingungen, weshalb auch die daraus entstehenden Konflikte meist extrem sind.
Ein Entwicklungs- oder Aufbauprojekt in einer Organisation ist deshalb durchaus mit der Überwindung der „frontier“, mit der Besiedlung des alten – gern als „wild“ apostrophierten – Westens vergleichbar. Denn auch hier geht es immer darum, „wildes“ Neuland zu betreten, alte Traditionen hinter sich zu lassen, sich Ungewissheit und der Gefahr des Scheiterns auszusetzen. Man betritt einen neuen Raum, in dem zunächst einmal gar keine Regeln zu gelten scheinen und muss diesen Raum mit eigenen Regeln füllen und diese auch durchsetzen. Daraus entstehen Konflikte.
Bilder von Führung gehören deshalb zu allen großen Western, denn die Füllung des endlosen Raumes, die Überwindung der „frontier“, sind Situationen, in denen die Notwendigkeit wirksamer Führung ohne weiteres offenbar wird. Hier gilt es, gemeinsam ein Ziel zu erreichen oder – das ist im Western im Regelfall die Alternative – unterzugehen. Wohl deshalb haben sich die Protagonisten der großen Western allseits so großer Beliebtheit erfreut. Denn das Drama der Notwendigkeit von Führung, der Erfolg dabei und das klägliche Scheitern darin, ist das zentrale Thema vieler Westernklassiker und auf die eine oder andere Weise sogar Thema letztlich aller Western.
Und weil aus diesen Gründen Projekte letztlich Western sind und darüber hinaus das Thema Führung in beiden eine zentrale Rolle spielt, schließlich das Format des klassischen Westerns die Dinge in hervorragender Weise auf den Punkt bringt, zuspitzt und nachvollziehbar macht, macht es Sinn, sich die drei Aspekte von Führung, wie sie oben erläutert sind, im Setting des Western nochmals zu veranschaulichen.
Rio Bravo
Geeignet dafür erscheint Howard Hawks‘ zeitloser Klassiker „Rio Bravo“, der von Kritikern regemäßig zu den besten Filmen der Welt gezählt wird und von dem der Regisseur Quentin Tarantino zu sagen pflegt, bevor er mit einem Mädchen ausgehe, schaue er mit ihr Rio Bravo, um sicherzugehen, wes Geistes Kind sie sei.
Der Film ist alt und hinlänglich bekannt, dennoch sei die Grundkonstellation, um die es geht, nochmals kurz beschrieben.
Sheriff John T. Chance (John Wayne) ist Sheriff in einer unbedeutenden Stadt. Sekundiert wird er von seinen Deputies Dude (Dean Martin) und Stumpy (Walter Brennan). John Wayne ist als Sheriff Führungskraft, sowohl den Bewohnern seines Städtchens als auch seinem Team gegenüber. Die Situation seines Teams wird dadurch verkompliziert, dass Dude in Folge einer unglücklichen Liebschaft zum hoffnungslosen Alkoholiker verkommen ist, während Stumpy längst alt, zahnlos und quasi gehbehindert ist. Keine Frage: John T. (wie ihn die eine charmante Nebenrolle spielende Angie Dickinson stets nennt) hält den Laden zusammen. Die Unterstützung durch seine Deputies scheint, wenn überhaupt, nur eine symbolische zu sein. Dieses Bild ändert sich später lediglich ein wenig durch das Dazustoßen des forschen jungen Meisterschützen Colorado (Ricky Nelson).
Der Konflikt, um den es geht, ist folgender: Dude gerät auf der Suche nach Whisky in Streit mit dem cholerischen Bruder eines reichen Rinderbarons, der daraufhin einen unbeteiligten und unbewaffneten Saloonbesucher erschießt. John T. Chance verhaftet ihn daraufhin und will ihn wegen Mordes anklagen lassen (da das Opfer keinen Revolver trug – so die unbezwingliche Rechtsphilosophie des Western – muss es sich um Mord handeln). Der mächtige Bruder des Todesschützen lässt daraufhin die Stadt abriegeln und das Gefängnis belagern, in dem sich John T. Chance mit seinen Getreuen und dem Gefangenen verschanzt hat, um die Ankunft eines US Marshalls abzuwarten. Es kommt zu einer sich im Grad der Gewaltausübung sukzessive steigernden Abfolge von Versuchen, die im Gefängnis der Stadt isolierten Gesetzeshüter zur Aufgabe zu zwingen, bevor schließlich der – im Wortsinn! – explosive Showdown folgt und der Konflikt entschieden wird.
John Wayne und die drei Ebenen der Führung
Einer der wesentlichen Reize des Films – neben vielen anderen – ist die Darstellung der Führungsfigur John T. Chance durch John Wayne. Denn offensichtlich ist John T. Chance eine hochwirksame Führungsfigur, obwohl es zunächst gar nicht unbedingt danach aussieht. Seine Gegner nehmen ihn nicht ganz ernst und auch die Bewohner der Stadt sind skeptisch angesichts seines Festhaltens an seiner scheinbar defizitären Mannschaft (man denke an den entweder betrunkenen oder verkaterten Dude und den quengelnden und humpelnden Stumpy).
Trotz aller Hindernisse und trotz der gewaltigen Übermacht seiner Gegner führt John T. Chance sein Team zum Erfolg. Ein Erfolg, den er, wie an verschiedenen Stellen des Films sehr deutlich wird, auch niemals allein hätte erreichen können. Das Erfolgsrezept, das von Seiten des Sheriffs dahinter steht, ist vielmehr eine hochwirksame und sehr effiziente Führung. Doch wie sieht diese Führung aus? Anhand der drei Seiten von Führung lässt sich diese Frage recht einfach beantworten.
Führung der eigenen Person: Gewehr statt Revolver
Vereinfacht gesagt: John T. Chance weiß, was er tut, und er weiß, was er kann. Anhand dieses Wissens formatiert er die Maßnahmen, die er ergreift, kalkuliert die Risiken, die er eingeht, und bestimmt seinen Auftritt gegenüber Mitarbeitern und Konkurrenten.
So trägt er neben dem obligatorischen Revolver stets ein Gewehr mit sich herum. Danach gefragt, warum er das tue, antwortet er wie selbstverständlich, dies sei notwendig, weil es Männer gebe, die mit dem Revolver schneller seien als er selbst. Das Gewehr gleicht folglich an dieser Stelle die selbsterkannte Schwäche des zu langsamen Griffs nach dem Revolver aus. Voraussetzung dieser – für einen Westernhelden durchaus ungewöhnlichen – Aussage ist jedoch ein erhebliches Maß an Selbstreflexion und Kritikfähigkeit. Selbstreflexion ermöglicht an dieser Stelle zunächst die Erkenntnis, dass eine Schwäche vorliegt (er ist mit dem Revolver nicht schnell genug, um sich gegen jeden Gegner durchsetzen zu können). Darüber hinaus wird basierend auf dieser Erkenntnis die Lösung des Problems möglich (das Tragen des Gewehrs).
Gegenüber den Städtern wie seinen eigenen Leuten tritt John T. Chance in Folge authentisch und überzeugend auf. Authentisch, weil er nicht vorgibt, etwas zu können, was er nicht (oder nicht in ausreichendem Maße) kann, und überzeugend, weil er für seine erkannte und offen kommunizierte Schwäche eine effektive Lösung anzubieten hat. Das offene Eingeständnis einer kompensierbaren Schwäche mindert daher seine Autorität nicht nur nicht, sondern erhöht sie im Gegenteil sogar, denn der Patrouillengang mit dem vorgehaltenen Gewehr ist im Film so etwas wie sein Markenzeichen, das ihn als Autoritäts- und Respektsperson ausweist.
John T. Chance ist somit im besten Sinne durchlässig. Er ist durchlässig für die (selbstgeübte) Kritik an seinen eigenen Fähigkeiten, die ihn in Folge dazu befähigt, eigene Schwächen festzustellen und eigenständig zu beheben bzw. auszugleichen.
Diese Durchlässigkeit ist das zentrale Element der Führung der eigenen Person. Nur wenn sie vorhanden ist, kann die Führungskraft sich ständig selbst hinterfragen und ihre eigenen Standards überprüfen und an ihnen feilen. Diese Standards und ihre Einhaltung wiederum erzeugen jene Glaubwürdigkeit der Führungskraft, die Vertrauen bei Mitarbeitern und Achtung bei Konkurrenten und Gegnern herstellt. Entscheidend dabei ist, dass es nicht primär um die meisterhafte Beherrschung einer bestimmten Fertigkeit (das schnelle Ziehen) geht, sondern um die Erkenntnis und ihre konsequente Umsetzung, dass für den Sheriff wie seine Deputies die wirksame Selbstverteidigung mittels Schusswaffe ein entscheidender handwerklicher Standard ihres Berufes ist. Dieser Standard muss stets überprüft und notfalls durch Umwege erfüllt werden. Das bewusste Tragen des Gewehrs als Substitut für den schnell gezogenen Revolver ist daher kein Zeichen von Schwäche, sondern vielmehr eines von hochwirksamer Führung der eigenen Person.
Führung des Geschäfts: Keine Hilfe von Amateuren
Das Geschäft des Sheriffs ist gefährlich und beschwerlich. Im Lauf des Films findet sich John T. Chance so ziemlich allein weiter Flur wieder. Zwar erhält er diverse Unterstützungsangebote aus seiner Stadt und vom Führer eines durchreisenden Viehtrecks. Er lehnt jedoch alle diese Angebote konsequent ab.
Interessant sind seine Gründe für diese Ablehnung. Er weist diese Angebote nämlich nicht aus Stolz oder falsch verstandener Rücksicht von sich, sondern weil er sein Geschäft zu gut kennt. Wohlmeinende Amateure – so erklärt er dem erstaunten Führer des Viehtrecks – seien seiner Sache nicht nur nicht dienlich, sondern würden mehr schaden als nutzen. Denn um sein Geschäft erfolgreich zu betreiben (also den Kampf mit den Schergen des Viehbarons aufzunehmen) seien sehr hohe handwerkliche Standards und das entsprechende Commitment an die Sache notwendig. Gewöhnliche Cowboys und Möchtegern-Revolverhelden, die vor allem an ihre Lieben zuhause dächten, seien dafür nicht geeignet. Durch diese Defizite und Prioritäten würden sie zur Gefahr für sich selbst (durch ihr Unvermögen) und für den Sheriff (durch ihre mangelnde Verlässlichkeit).
Als der Führer des Viehtrecks auf den Gedanken verfällt, dass zwar er selbst womöglich keine Hilfe, dafür jedoch der junge Revolverschütze Colorado ganz hervorragend geeignet sei, lehnt dieser mit Verweis auf die aussichtslose Situation und das hohe Risiko dankend ab. Den Sheriff erschüttert das durchaus nicht. Seine Kenntnis seines Geschäfts und der Menschen, mit denen man darin zu tun hat, lässt ihn diesen Rückzug des jungen Mannes sogar als außergewöhnliche Klugheit und Souveränität erkennen: „Er ist so gut, dass er das nicht jedem zeigen muss.“.
Bemerkenswert ist, dass John T. Chance auch angesichts der völligen Isolation von jeglicher Unterstützung nicht einen Millimeter von dieser Einschätzung der Sachlage abweicht und darin absolut konsequent bleibt. Seine Einschätzung ist illusionslos und erfahrungsgetrieben. Das wiederum ist der Grund dafür, dass seine eigene kleine Mannschaft seine Einschätzung und die daraus erwachsene Zurückweisung aller Hilfsangebote klaglos hinnimmt und jederzeit bereit ist, ihm zu folgen. Obwohl er die Situation, in der alle gemeinsam stecken, dadurch sogar scheinbar noch schwieriger macht, führt dies nicht dazu, dass sich seine Leute von ihm abwenden oder gar das Weite suchen, sondern er erreicht damit im Gegenteil ein noch höheres Vertrauen und Commitment seiner Mannschaft.
Entscheidend für die Führung des Geschäfts sind an dieser Stelle folglich die sichere Beherrschung der Materie, ein hohes Maß an Erfahrung und die Bereitschaft, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, auch wenn diese schwierig und unangenehm sein sollten.
Die Führung anderer: Dude, Stumpy und Colorado
In der Führung anderer laufen alle Faktoren, die bei den zwei vorhergegangenen Ebenen erfolgreicher Führung zum Tragen kamen, zusammen. Hier findet auch die eigentliche Nagelprobe statt, denn Führung ohne „andere“ ist keine wirkliche Führung.
John T. Chance steht im Film an dieser Stelle nicht nur von einer extrem schwierigen Führungsaufgabe, sondern insbesondere vor einem hochanspruchsvollen Personalentwicklungsproblem.
Denn bis auf den später hinzustoßenden Colorado leidet sein gesamtes Team unter teils extremen Defiziten, was die gemeinsame Bewältigung der Aufgabe noch schwieriger macht als sie ohnehin schon ist.
John T. Chance führt hier in einem – für das stark hierarchiegeprägte Genre Western – bemerkenswert offenen Entwicklungsmodus. Das beste Beispiel ist der ehemals zuverlässige, mittlerweile aber alkoholkranke Deputy Dude. Obwohl dieser von seiner ursprünglichen Leistungsfähigkeit aufgrund seiner Trunksucht weit entfernt ist, hält Sheriff Chance unbeirrbar an ihm fest und offenbart dadurch bemerkenswerten personalentwicklerischen Weitblick. Einer der schönsten Aspekte des Films ist zu verfolgen, wie John T. Chance dem unter seiner alkoholbedingten Unfähigkeit leidenden Dude weiten Raum lässt und ihn schrittweise zu der Einsicht bringt, dass eine Änderung seiner Lebensgewohnheiten dringend erforderlich ist. Einerseits ist er dabei bis zur Schmerzgrenze tolerant (deutlich toleranter als die Städter und der Führer des Viehtrecks, die Dude längst abgeschrieben haben), andererseits hält er dem verkaterten Dude selbst dann gnadenlos den Spiegel vor, als dieser wieder erste Erfolge zu verzeichnen hat: „Dieses Mal hast Du sie überrascht, weil niemand mehr mit Dir gerechnet hat. Das nächste Mal werden sie vorbereitet sein.“
Was John T. Chance dabei tut, ist durch bewusste Führungsinterventionen Dudes Führung seiner eigenen Person wieder auf den Standard zu heben, den Chance aufgrund seiner Kenntnis des Geschäfts für unabdingbar hält. Er entlässt ihn dabei nie aus der Verantwortung für diese Führung seiner eigenen Person und verlangt von ihm jederzeit, sich bewusst mit seiner eigenen Entwicklung (also seiner Alkoholsucht) auseinanderzusetzen. Sein Feedback ist hart und für Dude extrem schmerzhaft. Doch John T. Chance gelingt es auf diese Weise, Dude zu entwickeln. Über mehrere Rückfälle erlangt Dude aufgrund der Führungsinterventionen des Sheriffs schrittweise seine alte Souveränität zurück und überwindet allmählich das alkoholbedingte Zittern seiner Hände. Als John T. Chance den maßgeblichen Entwicklungsschritt getan sieht, belohnt er Dude, indem er ihm seinen zu besseren Zeiten getragenen Revolvergürtel samt Revolver zurückgibt. Dude hatte ihn versetzt, um an Geld für Whisky zu kommen, Chance hatte ihn vorsorglich ausgelöst.
John T. Chance leistet damit einen erheblichen Vertrauensvorschuss, indem er Dude den nötigen Entwicklungsfreiraum zugesteht, gleichzeitig jedoch diesen stets an seinen unverrückbaren handwerklichen Standards misst. Sobald er sich fängt, wird Dude wieder zum vollwertigen Teammitglied. Doch zunächst muss er sich beweisen. Sheriff Chance beweist Führungssouveränität darin, die Ungewissheit, ob sich Dude fangen wird oder nicht, auszuhalten, und trotz diverser Rückschläge an seinem Entwicklungsziel für ihn festzuhalten, ohne zugunsten eines schnellen Erfolges seine Standards zu senken.
Ähnlich souverän werden Colorado und Stumpy vom Sheriff geführt. Ersterer erhält sehr weitgehende Gestaltungsfreiheit, da John T. Chance von seinen Fähigkeiten und vor allem nach dessen ursprünglicher Weigerung zu helfen von seinem Commitment überzeugt ist.
Bei dem alten Stumpy hingegen verhält es sich genau umgekehrt. Dieser bringt zwar nahezu grenzenloses Commitment mit, muss jedoch in seinem Einsatzeifer von John T. Chance stets gebremst werden. Stumpy fehlt die Einsicht, dass er aufgrund seiner Gehbehinderung für das Team außer an seinem angestammten Posten als Gefängniswache eher hinderlich ist. Der Sheriff hingegen weiß genau einzuschätzen, an welcher Stelle Stumpy am wirksamsten seine Talente zum Einsatz bringen kann und bringt ihn dazu, sich auch eben darauf zu beschränken. Der Showdown des Films offenbart allerdings, dass es Situationen geben kann, in denen sich auch die kluge Führung des Sheriffs als kurzsichtig erweist. Schließlich ist es Stumpy, der im entscheidenden Moment den nötigen explosiven Input bringt, um das letzte Gefecht für sein Team zu entscheiden und damit in seiner Entwicklung über die ihm gesetzten Grenzen hinaus wächst.
John Waynes Entwicklungsmodus
Gemeinsam ist allen drei Fällen, dass John T. Chance bei der Führung anderer die wesentlichen Aspekte der ersten beiden Führungsebenen kombiniert und unterstützt durch Empathie und Menschenkenntnis wirksam zur Geltung bringt. Die eigene reflektierte Entwicklungsfähigkeit führt, gepaart mit der richtigen Einschätzung der jeweiligen Situation und der Beherrschung der notwendigen handwerklichen Standards dazu, dass John T. Chance sowohl Entwicklungsstand wie Entwicklungspotential seiner Mitarbeiter genau erkennt und daraus die richtigen Schlüsse zieht. Er treibt die Entwicklung seiner Mitarbeiter durch regelmäßige Führungsinterventionen und vor allem durch ständiges Feedbackgeben voran, ohne in den Irrglauben zu verfallen, diese Entwicklung vollständig und gewaltsam steuern zu können. Er weiß, dass er die für die erfolgreiche Führung der eigenen Person nötige Selbstreflexion nicht erzwingen, sondern nur fördern und begünstigen kann.
Schließlich verteilt er die Aufgaben in seinem Team entsprechend dieser jeweiligen Erkenntnisse. Dies führt dazu, dass Aufgaben nach individuellen Fähigkeiten und Stärken, aber auch nach Entwicklungsgesichtspunkten zugeteilt werden, so dass beispielsweise Dude gezielt an seinen Herausforderungen wachsen und vom Alkoholiker zum respektierten Deputy werden kann.
Sheriff Chance findet so die Mitte zwischen der hartnäckigen Verweigerung von Führungsarbeit in Form von laissez-faire (der eingangs erwähnte Leiter der Buchhaltung) und dem misstrauisch-ängstlichen Selbstmachen (sein Kollege, der Logistikleiter). Er nimmt die Herausforderung, führen zu müssen, bewusst an, durchdringt sie auf allen drei Ebenen und es gelingt ihm auf diese Weise, ein stimmiges Gesamtbild zu erzeugen und seine Mannschaft wirksam zum Erfolg zu führen.
Die drei Ebenen der Führung greifen somit im Film ständig ineinander und treiben sich gegenseitig an. Sie treiben gleichzeitig den Plot des Films voran und sorgen dafür, dass die an sich anspruchslose Geschichte eine Vielzahl interessanter psychologischer Facetten erhält. Dies wiederum trägt maßgeblich dazu bei, den Film weit über den Durchschnitt zu heben und macht ihn zu dem zeitlosen Klassiker, der er heute ist.
Singen die Berater?
Jedes Projekt ist ein Western – soweit waren wir uns einig – aber natürlich ist nicht jedes Projekt Rio Bravo. Solche glorreichen Konstellationen sind von einer Vielzahl von Faktoren abhängig. Manchmal kommen sie zusammen. Dann sind ganz ähnlich wie im Film die erstaunlichsten Entwicklungserfolge zu beobachten.
Im Angesicht der größten Projektkrise allerdings einen charmanten Song anzustimmen (dies geschieht im Film, wie Regisseur Howard Hawks lakonisch anmerkte, „weil zwei der Hauptdarsteller Sänger sind“), gehört leider bislang noch nicht zu unserem Repertoire.
Aber wir sind ständig im Entwicklungsmodus.