Die Grundstruktur der heute noch überwiegenden Organisationsform von Unternehmen und Institutionen ist weit über 2000 Jahre alt. Während die Pyramidenform, die einst ihren Ursprung in der Kirche und im Militär genommen hat, für lange Zeit den Gegebenheiten entsprechend logisch erscheinen konnte, müssen heute unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen Zweifel an der Leistungsfähigkeit dieser Organisationsstruktur aufkommen.
3 Faktoren, die auf eine Strukturierung von Organisationen großen Einfluss haben, seien hier stellvertretend für viele andere herausgegriffen: die Bildung, die Moral und die gesellschaftlichen Ideale.
In der Ursprungszeit industrieller Organisationen gab es ein Bildungsgefälle größten Ausmaßes. Analphabeten stellten das Gros aller Arbeitskräfte und zwischen dem Patron mit seinen Angestellten im Comptoir eines Betriebes, die lesen, schreiben und rechnen konnten, die sich auch sprachlich einigermaßen gewandt ausdrücken konnten (also mündig waren!), und den Arbeitern bestand schon aus diesem Grunde ein Abhängigkeitsverhältnis bis zum Ausgeliefertsein, weil diese sich ohne die Vorgesetzten überhaupt nicht artikulieren konnten. Sie waren auf deren Hilfe oder auf die des Lehrers oder Pfarrers angewiesen, mussten ihre Arbeit in kleinen Schritten vorgezeigt und zugeteilt bekommen.
An der Spitze der Organisation stand der ‚kann alles‘, an der Basis der ‚kann nichts‘. Dementsprechend hieß das Grundprinzip der Arbeitsgestaltung: vereinfachen, die Arbeit in kleinste Schritte zerlegen, idiotensicher machen, damit auch Analphabeten und Ungelernte sie verrichten können.
Heute haben sich die Bedingungen gründlich gewandelt. Wir kennen kaum noch Analphabeten unter uns und eigentlich muss sich niemand mehr vom Meister vorlesen oder vorschreiben lassen. Wir erleben den mündigen Mitarbeiter, dessen Formulierungskünste manchem Vorgesetzten Angst und Schrecken einjagen. Und es gibt viele Mitarbeiter, die nicht nur in ihrem Fachgebiet besser und aktueller ausgebildet sind als ihr Chef.
Die Arbeitszerlegung, die sich einst segensreich angelassen hatte, führt, wo sie heute nicht in Automatisierung mündet, zwangsläufig zu Unzufriedenheit, Unlust und zu Protesten. Die Diskrepanz zwischen Anforderungen einerseits und gewachsenem Selbstverständnis andererseits führt zu Unmut und Unlust. Herbert Groß hat dies schon vor über 50 Jahren in die einprägsame Formel gekleidet: ‚Überkönnen erzeugt Unterwollen!‘.
Nehmen wir als zweiten Faktor die Moral. Diese war vor 100 Jahren noch eine Konsequenz der ausgeprägt religiösen Erziehung, des Glaubens an Gott, den Allmächtigen, der alles sieht, der belohnt und straft, wenn nicht sofort, dann später, wenn nicht im Diesseits, dann im Himmel, Hölle oder Fegefeuer. Das betraf nicht nur Diebstahl, Ehebruch und Mord, sondern auch Fleiß, Gehorsam gegenüber allen Oberen, die Sorgfalt im Umgang mit fremden Sachen, Ehrlichkeit und Ehrerbietigkeit sowie andere Tugenden, durch die sich eine Organisation fruchtbar und reibungslos gestaltet. Heute ist de facto die Religion als altmodisches Relikt über Bord geworfen. Zwar gründet unsere Ethik noch in christlichem Glaubensgut, aber der moderne aufgeklärte Mensch ist nicht mehr überzeugt, dass Gott alles sieht und lenkt. Und wenn schon, Hauptsache der Chef sieht und hört nicht, dass man für viele Euros auf Firmenkosten telefoniert, im Netz surft, seinen Bürobedarf im Betrieb deckt oder hinter dem Rücken des Vorgesetzten bummelt. Hauptsache man wird nicht überführt, wenn man zum eigenen Vorteil schwindelt.
Unsere Moral ist eine Moral des ’nicht-ertappt-werden-Wollens‘ und es hat sich die Volksmeinung etabliert, dass die in Organisationen Kleinen den kleinen Reibach machen, während die Großen auch zur großen Selbstbedienung greifen. Gegenseitige Glaubwürdigkeit ist in Auflösung begriffen. Damit fehlt der ursprünglich stimmigen Organisation ein wichtiges Element zur Selbststeuerung. Und dem können auch corporate governance-Arbeitsgruppen und Vorträge zur Geschäftsethik nicht mehr auf die Sprünge helfen.
Eng verwandt mit der religiösen Ausrichtung ist der Glaube an eine heilige Ordnung (Hierarchie), die sich überall in der Gottesschöpfung wiederholt. Das hierarchische Dreieck mit Gott an der Spitze und den Sündern auf Erden an der Basis findet seine Entsprechung mit dem Kaiser und den Untertanen, mit dem Feldherrn und seinen Soldaten, mit dem Prinzipal und seinem Gesinde, mit dem Vater und der Familie, dem Lehrer und den Schülern etc. Damit war die Welt noch in Ordnung und jeder hatte sich an die Ordnung zu halten. Die Floskeln unter Schriftstücken an die Obrigkeit konnten nicht ‚à la untertänigst‘ genug ausfallen. Das Ideal war der brave Bürger, nicht der kritische, aufsässige, widerspenstige Zeitgenosse.
3 mächtige Säulen, auf denen die hierarchische Organisation ruhte, sind geborsten. Die Wandlungen, die sich vollzogen haben, drohen die Position der Mächtigen und der Obrigkeit mehr als anzukratzen. Machtgewinn des Einen geht nun einmal mit Machtverlust des Anderen einher. Die erste Reaktion derer, die ihre Souveränität im Unternehmen angefochten sahen, war, dass sie die ihnen zukommenden Druckmittel Einkommen und Beförderung, Beschäftigung oder Kündigung, Zuckerbrot und Peitsche noch ausgeprägter nutzten. Das Führungsmittel Angst wurde aktuell. Das hat zwar die Spannungen erhöht und im Regelfalle die Fruchtbarkeit der Zusammenarbeit nicht steigern können, doch schien es immerhin geeignet, die Pyramide, eine anscheinend klare und eindeutige Führungsstruktur, zu erhalten.
Soll man dies den Vorgesetzten verübeln, wo wir doch immer noch nicht wissen, welche neue Organisationsform an die Stelle der alten treten soll? Wo wir nicht einmal wissen, ob es eine Organisationsform gibt, die es an Effektivität mit der Pyramide aufnehmen kann?
Verhaltensforscher kamen auf den Plan, um herauszufinden, unter welchen Bedingungen Menschen Leistungen erbringen oder mehr oder minder offen Leistung verweigern. Roethlisberger und Mayo haben schon vor 100 Jahren das wichtigste aller Ergebnisse auf die Kurzformel gebracht: ‚men like to be important‘. Maslows und Herzberg konnten diesen ‚Kümmererfaktor‘ nur bestätigen. Die Psychologisierung des Managements hat seither ganze Bibliotheken gefüllt, den Chefs eingebläut, dass sie sich (nur noch) als Coach verstehen sollen und dass im Zweifelsfalle die Prozesse der Selbstorganisation das richten werden, was sonst nicht mehr zu richten ist. Das Arbeitsrecht hat aus Mitarbeitern aller Fach-und Führungsebenen fast die ‚untouchables‘ gemacht und das Mobbing ist auf dem besten Wege, die Kündigung als Trennungsverfahren abzulösen (denn Systeme finden bekanntlich immer Um- und Auswege).
Wenn wir heute auf unsere Organisationen schauen, finden wir meist eine Gemengelage in 7 Formen mit jeweils unterschiedlicher Ausprägung:
Da gibt es immer noch die ‚Wir machen das am besten so‘ oder Maschinen-Organisation:
- ‚Alles läuft nach Schema F‘ – Abläufe und Verantwortlichkeiten sind definiert und eindeutig
- ‚Der Einzelne ist austauschbar‘ – Die Proportionen innerhalb des Unternehmens verändern sich kaum
- ‚Für jedes Thema hat einer den Hut auf‘ – Weisungsbefugnis und Verantwortung sind eng aneinander gekoppelt
- ‚In der Planerfüllung liegt der Erfolg‘ – Die detaillierte Vorausplanung mit Soll-/Ist-Abgleich ist entscheidendes Steuerungsinstrument
- ‚Wir haben klare Maßstäbe für Richtig und Falsch‘ – Es gibt öffentliche Verhaltensmaßregeln
Bestens bekannt ist auch die ‚Wir müssen das so machen‘ oder Bürokratische Organisation:
- ‚Da sind Sie hier falsch‘ – Hochgradig funktional gegliedert, hohe Spezialisierung
- ‚Das geht nur auf dem Dienstweg‘ – Kommunikation vor allem von oben nach unten und zurück,
- vertikale Kommunikation wird nicht gefördert oder sogar unterbunden
- ‚Sie sind doch erst 7 Jahre in unserem Hause‘ – Gewinn von Macht und Kompetenz durch Verweildauer
- ‚Und wenn Sie der Kaiser von China wären …‘ – Loyalität gegenüber Verfahren und Regeln geht vor Loyalität gegenüber Personen
- ‚Warten wir ab, bis es so weit ist‘ – Kaum Planung, sondern Reagieren mit Verfahren bei Eintreten bestimmter Vorfälle
In bestimmten Branchen hat sich die ‚Wir machen das jetzt wieder so‘ oder Organisation als Jagdgemeinschaft als besonders erfolgreich herausgestellt:
- ‚Da muss man durch‘ – Initiationsriten beim Eintritt in das Unternehmen
- ‚Dafür gibt’s einen Orden‘ – Sichtbarkeit von errungenen Erfolgen innerhalb und außerhalb des Unternehmens
- ‚Das Trainingscamp der Ledernacken‘ – Eigenes, spezielles Ausbildungskonzept mit ‚lebenslanger Prägung‘
- ‚Es geht um die Ehre‘ – Hohe Wertschätzung von Befehl, Gehorsam, Tradition und Aufopferung
- ‚Gemeinsam an vorderster Front‘ – Führung und Mitarbeiter sitzen oft an einem Tisch
Die Trendforscher wiederum empfehlen uns die ‚Wir machen das wie Sie es wünschen‘ oder Organisation als englischer Butler:
- ‚Der Kunde ist König‘ – Das Wohlbefinden des Kunden ist oberster Wert
- ‚Der Mann für alle Fälle‘ – Zuverlässigkeit, Verlässlichkeit, Treue etc. sind entscheidende Werte
- ‚Das Orchester spielt bis in den Untergang‘ – Loyalität bis zur Selbstaufgabe
- ‚Mit gutem Beispiel voran‘ – Die Unternehmensleitung als oberster Diener
- ‚Ein Verstoß gegen die Etikette‘ – Wenig Toleranz bei Abweichungen von Verhaltensnormen
Deutlich aufstrebend ist die ‚Wir machen das so‘ oder Politische Organisation:
- ‚Wenn ich nicht wäre …‘ – Zentrierung von Initiative und Entscheidungskompetenz auf die Unternehmensleitung
- “Innerhalb welcher Struktur wir agieren ist nicht so wichtig‘ – Persönliche Loyalität geht vor Verpflichtung durch Regeln, Vereinbarungen und Planungsvorhaben
- ‚Meine Truppen stehen‘ – Die Verantwortungs- und Aufgabenzuweisung ist von Führungsinteressen motiviert
- ‚Heute machen wir das eben mal anders‘ – Geringe Standardisierung, Ausrichtung an persönlichen Vorgaben der Unternehmensleitung
- ‚Davon habe ich nichts‘ – Karriere geht im Zweifelsfall vor inhaltlichen und geschäftlichen Erwägungen
Der Absteiger ist ‚Wir machen das, was richtig ist‘ oder Organisation als Glaubensgemeinschaft:
- ‚Der schnöde Mammon …‘ – Weltanschauung und Werte gehen vor Geschäftsinteresse
- ‚Dazu muss ich Dir eine Geschichte erzählen‘ – Legenden und Mythen bestimmen die Organisation (über Gründung, Führung, Feinde, Judas, Thomas, verlorene Söhne)
- ‚Ich weiß selbst nicht, wie ich das alles hinkriege‘ – Selbstmystifikation der Führungskräfte
- ‚Man sieht sofort, wo die herkommen‘ – Die Organisation ist von einer einheitlichen Ästhetik geprägt
- ‚Den ganzen Tag im Auftrag des Herrn‘ – Aufhebung der Trennung von Privat- und Arbeitsleben
Und last but not least wollen wir auch die Systemtheoretiker nicht vergessen, die wie immer keine Antwort, aber eine gute Frage haben: ‚Wie machen wir das?‘ oder Organisation als Organismus:
- ‚Was bringt mir das?‘ – Die Befriedigung von Bedürfnissen (sozial, physiologisch, psychologisch) steht im Vordergrund
- ‚Wir finden schon einen Weg‘ – Geringe Formalisierung und Standardisierung
- ‚Lebenslanges Lernen‘ – Flexible, anpassungsfähige Muster beim Austausch mit der Umwelt
- ‚Auf schwierige Fragen gibt es keine einfachen Antworten‘ – Die interne Komplexität ist der Komplexität der relevanten Umwelt angepasst
- ‚Wenn wir den nicht hätten‘ – Die Abhängigkeit von einzelnen Personen wird zugelassen
Wenn es dem geneigten Leser nun so geht wie vielen Führungskräften, nämlich hinreichend verwirrt zu sein, aber auf deutlich höherem Niveau, dann empfehlen wir den Rekurs auf das, was uns die Managementforschung der letzten 30 Jahre mit dem Begriff der situativen Führung nahe legt.
Demnach passen erfolgreiche Führungskräfte ihr Führungsverhalten so an, dass es den Anforderungen einer bestimmten Situation gerecht wird. Dann ist situative Führung eine Kombination aus zielorientiertem und beziehungsorientiertem Führungsverhalten in einer konkreten Situation, diese Situation kann beeinflusst werden durch
- den Reifegrad der Mitarbeiter, der je nach Aufgabe unterschiedlich sein kann,
- die jeweilige Zielsetzung,
- die organisatorische Struktur und
- die gesellschaftliche Umwelt.
Alles klar? Ja; Agilität vergessen, Sinnfrage aus dem Auge verloren, Team nicht genügend berücksichtigt, Diversität nicht im Fokus, work-life balance ignoriert, Innovation verpeilt und Disruption nicht neu vermessen.
Meine Empfehlung stammt von George Bernard Shaw: Leute, die in dieser Welt weiterkommen, sind diejenigen, die sich aufmachen, um nach den Verhältnissen zu suchen, die sie sich wünschen und wenn sie diese nicht finden, machen sie sie sich selbst.