Zwischen Wahrheit und Wirklichkeit oder vor und hinter dem Spiegel

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Wenn man sich mit den Gegensätzlichkeiten und inneren Dynamiken von Organisationen auseinander setzt, kommt man an den Überlegungen von Ralph Stacey nicht vorbei. Dieser hat Mitte der 90er-Jahre ein Bild von Organisationen entworfen, das durch 2 Kräftefelder ausgezeichnet ist. Die eine Kraft hat das Bestreben, Organisationen in einem möglichst stabilen Gleichgewicht zu halten, Widersprüche zu vermeiden, Wirklichkeit vereinfacht darzustellen und Zukunft durch Planung zu gestalten.

Dieses quasi legitime System erledigt die Primäraufgaben der Organisation und sorgt durch Regeln, Routinen, Standards und Rituale für ein angestrebtes Maß an Stabilität. Es reduziert oder bekämpft die organisationale Angst, die mit dem Überleben zu tun hat, und legt sich meist auch über die Innovationsfähigkeit und Kreativität. Wettbewerb und Konflikte werden eher weggeblendet – im Vordergrund steht das Funktionieren. Stacey bezeichnet dies als das dominante Schema, dem vordergründig das organisationale Geschehen zu folgen scheint.

Und dann gibt es eine andere Kraft, ein anderes Bestreben – oder das, was hinter dem Spiegel ist. Hier bewegt man sich außerhalb des legitimen Systems und kann Antagonist der offiziellen Werthaltungen sein. Hier wird das Private im Gegensatz zu dem Öffentlichen ausgelebt. Hier verfolgen die Mitglieder der Organisation ihre persönlichen Spielregeln, wie sie sich im Sarkasmus des ‘Wenn jeder sich selbst hilft, ist allen geholfen’ niederschlägt. Hier geschieht die Mikropolitik der Organisation. Hier wachsen Akzeptanz und Ablehnung von Personen und es werden die persönlichen, meist psychologischen Bedarfe ausgelebt, die im Gegensatz zu den Spielregeln der Primäraufgaben stehen oder nicht zur gegebenen political correctness passen. Stacey bezeichnet dies als das rezessive Schema und meint damit ein Verhaltenssystem, das der Organisation zur Verfügung steht, aber nicht für die Verwirklichung ihres Hauptzwecks ausgeschöpft wird.

In diesem rezessiven Kontext geschehen viele informelle Anstrengungen, die das legitime System, das dominante Schema, unterstützen oder sabotieren können. Das rezessive Schema ist per se ein Kräftefeld, das zur Instabilität der Organisation führen kann. Vieles, was sich in der Organisationskultur und Mikropolitik einer Organisation niederschlägt, ist aus dem rezessiven Schema gespeist. Das rezessive Schema bestimmt den Charakter der Organisation.

Ob ein Sozialsystem marode oder intakt ist, wird wesentlich durch das rezessive Schema bestimmt. Wir spüren den Geist der Fürsorge oder der Geringschätzung auf einer Station im Krankenhaus. Wir erleben im Hotel den Absturz der Servicequalität, wenn der Chef nicht da ist. Und wir staunen über die Fehler und Abwicklungsprobleme eines zertifizierten Unternehmens: geordnete Strukturen und Prozesse sind weder eine notwendige, noch eine hinreichende Voraussetzung für Servicequalität und Kundenorientierung.

Eine besondere Paradoxie ist der Dienst nach Vorschrift, bei dem sich das rezessive Schema öffentlich als dominantes ausgibt – legalisierte Obstruktion.Die Lust an den dunklen Seiten des rezessiven Schemas kann man schon ab dem frühen Nachmittag im Fernsehen erleben, wenn sich Menschen mit ihren Beziehungen und in ihrem Sosein begeistert outen, Pseudo-Promis im Urwald campen und die Kamera im Container das Innerste zum Äußersten kehrt. Organisationale Stabilität oder Instabilität resultiert letztlich immer aus dem rezessiven Schema. Je mehr eine Organisation versucht, mit den Mitteln des dominanten Schemas, also durch die konventionellen Interventionen von Regeln bis zu Sanktionen, ein Gleichgewicht, eine Stabilität aufrecht zu erhalten, umso mehr ist sie im Sinne des Schmetterlingseffektes gefährdet. Eine in hohem Maße verstetigte Energie kann leicht zum Einsturz führen. Ein klassisches Beispiel hierfür war vor über 20 Jahren der Fall der Barings Bank in Singapur. Dort hatte Nick Leeson, ein hochrangiger Angestellter, durch kriminelle Spekulationen das Bankhaus zum Einsturz gebracht. Was auf den ersten Blick wie die Tat eines Einzelnen aussah, stellte sich bei späteren Überprüfungen als ein Gesamtsystem dar, in dessen Sumpf sich schon viele Führungskräfte der lokalen Geschäftsleitung bis hinauf zum Vorstand in London über Jahre wesentlich ihrem eigenen Vorteil zugewandt hatten und bestrebt waren, das dominante Schema aufrecht zu erhalten, um ihre eigenen Eskapaden zu verheimlichen. Lehman Brothers war der Beweis, dass man dieses Spiel auch noch in ungleich größerem Ausmaß betreiben kann. Im Dezember 2015 lassen wir uns überraschen, was bei VW und seinen Abgaseskapaden, bei der Deutschen Bank und bei Toshiba noch ans Licht kommen wird.

Es gibt auch in kleinerem Rahmen eine Vielzahl von Fällen, bei denen nicht die ökonomische Konfiguration, sondern der psychologische Hintergrund, meist sogar sehenden Auges, in die Insolvenz geführt hat. Ein Klassiker des rezessiven Schemas ist Murphy’s Law. Dessen Fundamentalerkenntnis des menschlichen Dilemmas mündet in der These: was schief gehen kann, geht schief! Aber nicht nur das – nein, es geht auch noch zum unpassendsten Zeitpunkt schief. Im Zweifelsfalle gehen auch noch mehrere Dinge gleichzeitig schief, um den größtmöglichen Schaden anzurichten. Sich selbst überlassen, wenden sich die Dinge vom Schlimmen zum Schlimmsten und wenn die Dinge gut zu laufen scheinen, hat man irgendeine Falle übersehen. Mühe und Anstrengung sind vergebens, Zurücklehnen und Zuwarten ist angesagt.

In ein ähnliches Horn bläst ‘simplify your life’: wenn man bedenkt, dass 95 % der sechzigtausend Gedanken eines Tages die gleichen sind wie am Tage zuvor, dann kann man sie sich auch sparen. Systematisch aufräumen heißt die Devise. Die Festplatte des Lebens wird defragmentiert und als unbeschriebenes Blatt können wir unbeschwert dahinleben. Mit diesem Gerümpel-Paradigma schaffen wir auch gleich Belastungen wie Verantwortung, Empathie und alles andere ab, was zu Energieverlust führen würde.

Wenn wir nun also in jeder Organisation diverse Exponenten des Gleichgewichtes und der Instabilität haben, dann muss sich dies auch im Führungsverhalten des Managements niederschlagen. Man könnte auch sagen, es geht hier um die Kunst, auf der Welle zu reiten und die Energien aus dem Konflikt der beiden Schemata in der Form zu nutzen, dass Fortschrittsfähigkeit gewährleistet bleibt. Für das Management und die Organisationsteilnehmer heißt es dann, Widersprüche und Stress ertragen zu können, Angst auszuhalten, Macht durch Empathie zu ersetzen, Zeit für Reflexion zu schaffen und Raum für selbst organisierende Lernprozesse anzubieten.

Um das Spannungsfeld der beiden Schemata zu verstehen, zu diagnostizieren und auszugestalten, brauchen sie einige Brillen, Perspektiven oder Dimensionen, auf denen das Geschehen in Organisationen abbildbar ist. Stacey empfiehlt als erste Perspektive die emotionale Aufgeladenheit der Organisation. Hier geht es um das Spannungsfeld zwischen Inspiration und Angst. Dahinter stecken Belange wie Wut und Feigheit, Aufrichtigkeit versus bewusste Täuschung, Phantasie, Neugier etc. Werden Emotionen offen oder verdeckt ausgelebt, gibt es Feindbilder innerhalb oder außerhalb der Organisation?

In einer zweiten Brille reicht die Spannbreite von Konformität bis Individualismus. Diese haben mit dem Freiheitsgrad zu tun, den jedes Organisationsmitglied hat oder sich zu nehmen weiß. Haben die eigenen, individuellen Bestrebungen einen höheren Stellenwert als gemeinsame Ziele? Nutze ich die Organisation, wenn auch geschickt verbrämt, nur zu meinem Ego-Trip? Es geht hier also um Eigennutz versus den Anforderungen der Gruppe oder Abteilung. Lasse ich zum Beispiel den Kollegen auflaufen, wenn er sich anscheinend nicht helfen lassen will?

In einer dritten Dimension geht es um Führung und Gefolgschaft und um das Machtgefälle in einer Organisation, das im Regelfalle weit davon entfernt ist, statisch zu sein. Diagnostisch interessant ist hier jeweils, wie die Macht ausgeübt wird, wenn Mächtige an- oder abwesend sind und inwieweit die vermeintlich Mächtigen nur Macht haben, wenn die ihnen folgenden Nächstmächtigen ihnen auch wirklich Gefolgschaft leisten. Die relative Ohnmacht der Mächtigen wird zu einem immer bedeutsameren Aspekt von organisationaler Wirksamkeit und die Frage, wie Gefolgschaft und Freiraum gestaltet werden, zu einem essentiellen Erfolgskriterium von Unternehmen.

Mit einer vierten Perspektive könnte man Bewusstsein und Selbstbewusstsein abbilden. Hier geht es darum, wie über das eigene Verhalten reflektiert und wie das Geschehen im System beobachtet wird. Sind die Organisationsmitglieder aktiv Beteiligte und/oder eher außenstehende Beobachter? Sind die Anliegen der Organisation auch die Anliegen der Mitarbeiter? Wer ist beteiligt am Nachdenken über die Zukunft? Geht es um Konsumieren oder Initiieren? Wie wird der Anspruch an die Führung der eigenen Person umgesetzt?

Unternehmen jeglicher Couleur haben viel mit selbstverhüllenden Illusionen zu tun und selten oder nie ist es so, als stünde nur eine einzige Absicht hinter allem. ‘Unternehmen am Rande des Chaos’ hat Stacey sein Buch genannt. Dann sind Führungskräfte Chaos-Piloten – wir wünschen einen guten Flug.

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