„Und bist Du nicht willig, so brauch ich Gewalt!“ ängstigt sich das Kind in den Armen des Vaters zu Tode. Hat der Erlkönig in Goethes Ballade erst seine Verlockung, dann seine Drohung Ernst gemeint? War es subtile Aggression, Fieberphantasie, panische Angst? Wir wissen es nicht und haben Raum für Spekulationen jeglicher Art.
Sehr viel konkreter wird es, was Aggression und Gewalt anbelangt in „Falling down – ein ganz normaler Tag“. Verkehrsstau in Los Angeles. Mittagshitze. Ein Mann, William Foster – weiß, Mittelschicht – sitzt in seinem Auto, die Luft wird stickiger, eine Fliege nervt. Plötzlich steigt der Mann aus, er will „nach Hause“. Auf diesem Weg wird der Geduldsfaden dieses Mannes Millimeter um Millimeter weiter gespannt. Bis er reißt und er durchdreht. Der Alltag des unter sengender Sonne schwitzendem Moloch Los Angeles verwandelt diesen zunächst harmlosen Nobody in einen Psychopathen, der sich den Weg zu seiner geliebten Tochter bahnt, die heute Geburtstag hat.
Dieser Mann mit dem akkuraten Bürstenschnitt und dem Kassengestell vor den Augen ist ein Unsympath, aber auch ein Leidender und Sympathieträger. Es ist eine komplexe Figur und Michael Douglas spielt ihn verletzlich, wütend, sanft, aufbrausend, durchgeknallt, hilflos und brutal. Diesem Wechselbad der Gefühle setzt der Regisseur Joel Schumacher auch die Zuschauer aus; man schwankt zwischen Ablehnung und stiller Bejahung.
Der Film zeigt vieles von dem, was Aggression und Gewalt ausmacht in seiner Alltäglichkeit – eben ein ganz normaler Tag.
Alltäglich ist auch die Aggression, der wir jeden Tag medial begegnen können: aktuell sind ca 51% aller filmischen Angebote in ARD und ZDF Mord und Totschlag. Nehmen sie noch die großen Privaten dazu, sind es bei den 8 Sendern insgesamt auch fast die Hälfte aller Filme und Serien. Dass mediale Gewalt vor allem bei Kindern wesentlich zur Verhaltensformung beitragen kann, gilt als gesichert.
Und während unser Wirtschaftswachstum im Rückwärtsgang ist, prosperieren wir bei der Anzahl von Straftaten – und bei den Gewalttaten – in 2022 + 19,8%, 2023 + 8,6%, 2024 + 17,3%. Dahinter verbergen sich im Jahr 2023 ca. 255.000 Opfer von versuchter und vollendeter Gewaltkriminalität; auch hier ein Wachstum gegenüber Vorjahr um 8,3%. Und das Messer spielt rund 15.000 mal eine Rolle, Tendenz steigend; in 2023 gab es allein in NRW 15 Messertote und Berlin meldet aktuell (Februar 2025) einen Anstieg der Sexualverbrechen um 79% gegenüber 2018, konkret 7475 Straftaten p.a. das sind rund 20 pro Tag.

Für die weitere Betrachtung schaffen wir einige definitorische Grundlagen:
Aggression ist ein Verhalten, das darauf gerichtet ist, andere Menschen, Tiere, Dinge zu schädigen oder ihnen weh zu tun
Aggressivität ist eine individuelle Ausprägung, ein Persönlichkeitsmerkmal, der relativ überdauernden Bereitschaft zu aggressivem Verhalten.
Aggressivität ist nicht per se etwas Schlechtes sondern auch ein positives Energetikum, um etwas zu bewegen, zu erreichen. Und wenn der Fußballtrainer nach dem verlorenen Spiel seiner Mannschaft mangelnde Aggressivität attestiert, beklagt er nicht, daß die Gegner zu wenig verprügelt wurden sondern daß es an Einsatz und Siegeswillen gemangelt hat. Bedrohlich ist die Aggressivität, wenn sie mit Gewalt verbunden ist.
Gewalt ist eine schwerwiegende Form aggressiven Verhaltens mit situativer Bereitschaft zu Zerstörung und Tod.
Typische Ausdrucksformen von Aggression sind Emotionen wie
Ärger – der bei aversiven Erlebnissen wie Frustration, Enttäuschung, Belästigung oder Demütigung auftritt. Ärger ist immer objektbezogen d.h. man ärgert sich über etwas.
Wut – entsteht bei höheren Erregungsgraden als bei Ärger und deutlich weniger Reflexion, kann „blind“ machen und ist eher Primitivaffekt.
Zorn – ist eher rationalen Ursprungs und entsteht häufig, wenn andere Personen wichtige Normen verletzen; der Zornige braucht gar nicht Opfer solcher Normverletzung sein. Etymologisch nahe an Kampfesmut und Bereitschaft zum Streit kann die rationale Perspektive auch ins radikal-irrationale umkippen, den Jähzorn als kompletten Kontrollverlust.
Hass – ist eine eher überdauernde statt kurzzeitige Gefühlsregung und zielt auf die Entfernung, Schwächung oder gar Vernichtung des Hass Objekts. Mehr dazu hier
Aggression im Dauermodus ist, wenn wir gegen etwas sehr negativ eingestellt sind und jede Erinnerung an dieses Etwas negative Gefühle wie Ärger, Wut etc in uns weckt. Diese Feindseligkeit hat 3 Komponenten:
- Affektiv (die vom „etwas“ ausgelösten Emotionen)
- Kognitiv (Wissen und Meinungen zum „etwas“)
- Handelnd (offenes oder verdecktes Verhalten)
Ein anderer Blick ist der nach der Art der Aggression.
- Verdeckt vs offen haben wir bereits thematisiert, mobbing ist da in between
- Verbal vs körperlich mit der symbolischen, wenn wir z.B. die Faust zeigen
- Direkt oder indirekt, wenn Opfer an- oder abwesend ist (üble Nachrede)
- Allein oder mit anderen (dazu später mehr)
- Gegen andere oder gegen sich selbst (bis zum Suizid)
- Wütend (emotional) oder instrumentell (mit Kalkül)
- Notwendig (Verteidigung) oder lustvoll (bis sadistisch)
- Spielerisch (balgen) vs ernst
- Selbst- vs fremdinduziert (Befehl)
Bei der Suche nach dem Quell der Aggression gibt es drei Perspektiven, die historisch aufeinander folgen. Forscher wie Freud und Adler, Lorenz und Mitscherlich, Dollard und Kornadt, Bandura und Walters stehen exemplarisch für den Weg von angeboren bis gelernt. Wir unterscheiden:
Triebtheorien, bei denen uns die Aggression mitgegeben ist und wir mehr oder minder gut oder schlecht damit umgehen müssen/können.
Frustrations-Aggressions-Theorie, bei der Frustration immer zu einer Form von Aggression führt; also ohne Frust nur Lust.
Lerntheorie der Aggression, nach der Aggressionen wie alle anderen Verhaltensweisen (Sprechen, Schreiben, Kochen etc) erlernt werden und zwar durch
- Konditionieren (wie der Pawlow-Hund),
- lernen durch Erfolg (es wirkt) und
- annehmen durch Beobachtung und Modell
Meine persönliche Perspektive ist eine Melange /Verquickung von Persönlichkeit, Milieu (von Familie bis Netzwerk und Kulturkreis) und Lernerfahrung über Funktion und Wirksamkeit von Aggression.

Vom Baby zur Frau, vom Kind zum Manne.
In der Entwicklungspsychologie besteht heute einigermaßen Konsens, dass Aggression nicht angeboren ist (Abkehr von der Triebtheorie), aber sehr früh gelernt und praktiziert wird. Die Intensität der Aggression ist ein Zusammenspiel aus emotional-affektiver Ausstattung und den Interaktionen mit dem Umfeld, also im Wesentlichen mit Eltern und Geschwistern.
Unter 6 Monaten haben wir Unmut/Ärger/Wut-Reaktionen als Vorstufen von aggressionsaffinen Emotionen
Mit 12 Monaten (+/-) finden wir:
- Das Rauben von Gegenständen (mit Schlagen, Kratzen, Umstoßen)
- Das Verteidigen von Objekten (mit Schlagen, Kratzen, Umwerfen)
- Das Verteidigen eines Platzes (bei der Mutter, auf dem Spielplatz)
- Das Ablehnen von Fremden (Schreien, Schlagen,)
- (spielerisches) Schlagen mit dem Stock
- Erstes „testing the limits“
Mit 18 – 24 Monaten (+/-)
Aus dem Kampf um die Sache/Objekte wird ein Kampf gegen andere. Man bringe 2 Kinder (dieser Altersklasse) auf engem Raum zusammen und „die Wahrheit beginnt zu zweien“;-). Erste Lernerfahrung mit den Effekten von Aggression, Ausbildung „energischer“ Aktionsmuster: je intensiver desto mehr Aufmerksamkeit und Erfolg bei Widerständen.
Mit 36 Monaten ff
Die Entwicklung der Aggression differenziert sich interindividuell. Treiber dieser Entwicklung sind die affektiv-emotionale Grundausstattung und die Reaktionen der Eltern auf kindliche Aggressionen.
Die Reaktionen lassen sich (grob) unterteilen in Permissivität als Toleranz gegen kindliche Aggression und Punitivität als Bestrafung kindlicher Aggression. So können Eltern:
- 1. Nicht permissiv und wenig punitiv – unterbinden und nicht strafen
- 2. Nicht permissiv und sehr punitiv – unterbinden und strafen
- 3. Permissiv und wenig punitiv – tolerieren und wenig strafen
- 4. Permissiv und punitiv sein – tolerieren und strafen
Die Effekte zeigen sich (grob) wie folgt:
Gruppe 1 erfährt Grenzen in nicht aggressiver Weise, sie hat wenig Erfolge mit Aggressionen und wenig aggressive Modelle (des elterlichen Verhaltens), so dass ihre Aggression eher gering bleibt.
Gruppe 2 erfährt Grenzen in aggressiver Weise, hat also aggressive Modelle. Die Kinder bilden mittelstarke Aggressionen aus.
Gruppe 3 erfährt wenig Grenzen, kann also am Erfolg Aggressionen lernen, aggressive Modelle (der Eltern) fehlen eher. Auch hier Potential für mittelschwere Aggressivitäten.
Gruppe 4 kann sichoft erfolgreich mit Aggressionen durchsetzen und erlebt Eltern dennoch als aggressive Modelle. Das führt zu hohen Aggressionswerten.
Aber es sind ja nicht nur die Eltern sondern in zunehmendem Maße auch die Umwelt, das Milieu, die Schule, Freunde und Bekannte, die „wirksam“ werden.
Karrieren der Aggression (eine bestimmte Disposition vorausgesetzt) beginnen früh: der erste Diebstahl wird zu einem vollen Erfolg, das heimliche Wegnehmen erfährt eine Bekräftigung und erhöht die Wahrscheinlichkeit, in ähnlichen Situationen sich ähnlich zu verhalten.
Mit jedem weiteren Erfolg bei ähnlichen Verhaltensweisen wird eine überdauernde Erwartung an den Erfolg aufgebaut, es wird gelernt, Unlustzustände auf diese Weise zu beenden. Das Verhaltensmodell wird auf andere Realitätsbereiche ausgeweitet, die Techniken in einer allmählichen Verhaltensformung verfeinert.
Hin und wieder gibt es auch Mißerfolge (Bestrafungen), aber der Aggressions-/Verhaltensmodus wird nur zurückgebaut, wenn permanent Mißerfolge eintreten oder ein besonders großer Mißerfolg schockt. Treten jedoch viele Erfolge und nur einige Mißerfolge in bunter Reihenfolge auf, wird das Fehlverhalten besonders hartnäckig gelernt: die Lernpsychologie nennt das intermittierende Bekräftigung. Das ist auch einer der Gründe für das Scheitern von Resozialisierungsmaßnahmen und die mangelnde Effektivität von Haftstrafen. Ist die Haft ein Mißerfolg in einer Serie von Bekräftigungen und tritt sie nicht unmittelbar nach der Tat ein – meist noch nicht mal U-Haft – ist eher Verstärkung als Aggressionsabbau programmiert.
Die aktuell offenen, d.h. nicht vollstreckten 170.000 Haftbefehle in Deutschland passen in diese Gemengelage. Auch die Kriminologie weiß um die mehr oder minder Unwirksamkeit von loser bis Null-Koppelung von Tat und Bestrafung; die Praxis unseres Rechtssystems hat auf diese Evidenz jedoch keine überzeugende Antwort. Eine geradezu prototypische grausame Fallstudie haben wir am 22. Januar 2025 in Aschaffenburg erlebt und das ist beileibe kein Einzelfall.
Weitere Aggressionsverstärker
Bei feindseliger Aggression können die Schmerzzeichen des Aggressionsopfers mit dem Erfolgserlebnis verknüpft werden (klassische Konditionierung) und so können allein schon die Schmerzsignale Befriedigung hervorrufen: „freue mich schon auf das wimmern und betteln, wenn ich ihm in die Fresse haue“.
Erfolgreiche Aggressionen im Ärgerzustand können spannungslösend wirken, so daß in Zukunft bei ähnlichen Spannungszuständen die befreiende Aggression als Lösung gesucht wird. Ist auch eine mögliche Quelle für Jähzorn.
Belegt ist auch der Nachahmereffekt, wenn sozialmächtige Modelle (Peers) sich mit Aggressionen durchsetzen und/oder gar zu Helden hochstilisiert werden.
Aggression schafft Sicherheit für den Täter und reduziert die Angst vor Kontrollverlust, auch weil die Belohnung meist unmittelbar in der Situation eintritt.

Brandbeschleuniger der Gewalt: vom Individuum zum Kollektiv
im kollektiven Umfeld können auch Menschen Gewalt ausüben, die sonst eher unaggressiv erscheinen. Nicht nur im Kino gibt es den jungen, smarten Nachwuchsbanker, der sich in anderer Kluft zu seiner Fan-Gruppe gesellt, um den Ultras des anderen Vereins die Fresse zu polieren.
Die Faszination Gewalt in und mit Gruppen hat viele Komponenten, die allein oder verbunden eine Rolle spielen:
- Gemeinsamkeit macht stark und fördert die Abgrenzung gegen andere. Sie ermöglicht Aktivitäten, die allein nicht möglich oder zu riskant wären.
- Wir-Gefühle sind der Kit einer Vereinigung, die vor allem das eine braucht:
- Feindbilder bestimmen den Sinn, den Auftrag, oder das
- Gemeinsame Ziel, das auch Menschen verbindet, die sonst wenig oder nichts miteinander zu tun haben, aber sich im Tun gegen den Feind einig sind oder sich übertreffen wollen.
- Vorbildern in der Gruppenführung wird nachgeeifert, wenn der „Chef“ zu Gewalt greift.
- Gruppendynamik vermindert Aggressionshemmungen; die Mitglieder bestärken sich gegenseitig, dass ihr Tun rechtens/notwendig sei und schützt sie gleichzeitig mit der Anonymität durch die Gruppe.
- Wertschätzung durch die Gruppenmitglieder, vor allem dann, wenn man sich exponiert, fördert das Selbstwertgefühl und erhöht den Status in der Gruppe.
- Spaßfaktoren oder Lust an der Gewalt als Erlebnis der eigenen Potenz.
- Autonomieverlust durch das gleichgerichtete Handeln möglichst aller.
- Befehlsgewalt/klare Rangordnung ersetzt eigenes Entscheiden und unterstützt die Verantwortungsdiffusion.
- Soziale Identität liefert die Selbstkategorisierung und unterstreicht die Wertigkeit in der Gruppe; „da gehöre ich hin, das ist (wie) meine Familie“.
- Befehl und Gehorsam sichern das Funktionieren und sind gleichzeitig Exkulpation.
- Fraktionsdisziplin gibt Antwort auf mögliche Gewissensfragen.
- und der Deserteur wird mit dem Tode bestraft.
Typischerweise wird der Gegner nach seinen Taten beurteilt („reiner Terror, Missbrauch…“), das eigene Lager hingegen nach den Absichten („wir wollen den Frieden, die Freiheit…). Die eigene Gewalt ist die gerechte Gewalt!
Autoritätsgehorsam
In der Geschichte der Menschheit haben wahrscheinlich Menschen aus keinem anderen Grund so häufig getötet wie aus der Bereitschaft zum gehorsam – Autoritätsgehorsam oder gehorsam unter Strafandrohung.
Muster sind das Hofling Experiment, in dem Krankenschwestern wider eigenes Wissen und Kenntnis der Krankenhausstandards einem Patienten eine tödliche Dosis verabreichten (zum Glück gab’s Placebo). Nachzulesen hier:
In Stanley Milgrams Gehorsamkeitsexperiment werden, da angewiesen, Probanden immer heftiger werdende Elektroschocks zugefügt, noch 40% gingen bis zur höchsten Stufe. Mehr dazu:
Konformitätsdruck und Überrumpelung
Das Handeln (teils wider die eigenen Einstellungen) geschieht hier anders als in der Befolgung einer expliziten Anweisung durch eine vermeintliche oder tatsächliche Gruppenmeinung („ihr wollt mich den Dreck doch nicht alleine machen lassen“) und eine Überrumpelung durch hohen Zeitdruck, wie es die Asch-Experimente aus 1951 demonstriert haben. Nachzulesen hier:
Rollenzuweisungen und das System
Manchmal genügt schon eine Rollenzuweisung, um aus der eigenen Verfasstheit herauszutreten. Wenn per Los über die Rolle als Wärter oder Gefangener bestimmt wird und das Mandat der Wächter, für Ordnung zu sorgen, zu einem hohen Maß an brutaler Machtausübung führt, dann weiß man um die dünne Haut des zivilisatorischen Miteinander. Zimbardo musste nach 6 Tagen das Experiment abbrechen. Oliver Hirschbiegel hat das Zimbardo Experiment 2001 im Film u.a. mit Moritz Bleibtreu und Christian Berkel nachgestellt.
Von der Psychologie zur Psychopathologie der Gewalt
Spätestens bei der Psychopathologie der Gewalt sind wir bei Grausamkeit. (Und bei all dem, was jetzt kommt, müssen Sie sich auch den 7. Oktober 2024 in Israel vorstellen).
Hier ist die Gewalt entgrenzt, die Vorstellungskraft führt aus dem Bannkreis der Lebensumstände. Die Phantasie ist nicht mehr an Erlebtes gebunden und kennt keine Hemmungen.
Es gibt keine Grenzen, deren Überschreitung sich Menschen nicht vorstellen können. Die erdachte Gewalt lässt sich gefahrlos denken und die Gelegenheit führt zur Tat.
Die Imagination wird uferlos und obsessiv; sie ist „kreativ“ im Erproben neuer Praktiken und hört nicht mit dem Töten auf sondern erfinden neue Sterbensqualen und Methoden des zweiten Totschlags, der Totenschändung.
Die Motive zur Gewalt sind vielfältig und Aggression ist nur ein mögliches Motiv. Menschen können aus dem gleichen Motiv ganz verschiedene Verhaltensweisen an den Tag legen und umgekehrt aus unterschiedlichen Motiven identische Verhaltensweisen zeigen.
Und…
Zwischen Tat und Motiv gibt es keinen notwendigen Zusammenhang. Gewalt kann mit Willfährigkeit verbunden sein oder mit Lust an der Willkür, mit Ekel oder blinder Wut, mit Geltungsdrang oder Pflichtgefühl, mit der Hoffnung auf Anerkennung, mit psychopatischer Kaltblütigkeit oder dumpfer Perpetuierung.
Gewalttäter sind in ihren Gemütszuständen nicht festgelegt und fähig, sich selbst zu variieren (was wieder ein Teil des Lustgewinns sein kann).
Und dann suchen wir wieder nach den (möglichen) Ursachen wie ökonomische Krisen, soziale Deprivation, Ausbeutung, Zerfall der öffentlichen Ordnung, kulturelle Tradition, Desorientierung, Werteverlust oder Wertefanatismus, ethnische Gegensätze, soziale Feindbilder, personale/familiale Konflikte, intime Hassliebe, ein Trauma oder ein (plötzlicher) psychotischer Schub. Der letztgenannte hat seit einiger Zeit richtig Konjunktur.
All dies kann und wird seinen Einfluss haben – aber – wie beeinflussen die Umstände die Tat – oder deren Unterlassung??
Wolfgang Sofsky, dessen Traktat über die Gewalt die Leseempfehlung ist, wenn man den Rahmen des Möglichen verstehen will, postuliert, dass Umstände keine definitiven Ursachen des Gewalthandelns sind (weder notwendig noch hinreichend) sondern Gelegenheiten, die zum Glück nur von wenigen gewaltig genutzt werden. Die Umstände führen zu plausiblen Geschichten aber nicht zu kausalen Erklärungen. Am Ende hat jeder Mensch, in gleichen Umständen, die Freiheit, die Entscheidungsfreiheit, gewalttätig zu werden oder es zu unterlassen.
Dennoch ist es hilfreich, zu fragen, zu forschen, was den Gebrauch der Freiheit zu Gewalt treibt oder treiben könnte. Wie werden Menschen zu Tätern, was sind die sozialen Wechselwirkungen bei der „Grenzüberschreitung“?

Es sind fast immer soziale Verfahren, die bekannt, genutzt, eingeübt sind und ebenso harmlos wie tödlich sein können:
Das Ritual ist eine Verwandlung, ein Übergang vom Profanen zum Heiligen, von einer Ordnung zur Communitas, vom Alltag zum Fest. Die ältesten Formen der Gewalt – Hetzjagd, Opfer, Krieg – werden häufig mit Riten vorbereitet oder geschehen ganz innerhalb einer rituellen Ordnung. Riten haben nicht nur die Funktion, Gewalt durch normative Ordnung einzuhegen und sie mit Bedeutung zu überhöhen; in der Überhöhung liegt auch der Schlüssel für eine Gemeinschaft im Ausnahmezustand, die dann opfert, attackiert, jagt oder im Gleichschritt sich selbst und anderen den Tod bringt.
Auch im Ritual will keiner abseits stehen, mit dem geordneten Tumult wandelt sich die eigene Identität in das Soziale und durchstößt die Mauer zur Gewalt. Wir schließen uns im Kreis zusammen und beschwören unsere eigene Stärke und die Besiegung/Vernichtung des Gegners.
Der Befehl, an anderer Stelle auch schon ausgeführt, ist nicht nur Weisung und Zwang sondern zugleich eine Handlungsvollmacht und willkommener Ansporn. Man kann dem Irrglauben aufsitzen, dass die meisten Befehle nur mit Widerwillen befolgt würden, aber wenn endlich, nach längerem Verharren in Untätigkeit, der Aktionslust freier Raum gegeben wird, dann ist die Situation geklärt und alle Gedanken und Gefühle sind auf Tun, auf Attacke, gerichtet. Mit Befehlen kann man Menschen zum Töten, aber auch in den sicheren Tod schicken.
Das Fanal ist ein anderer Aktionsmodus der Grenzüberschreitung und nicht nur Leuchtfeuer oder Signalgeber sondern ein folgenreiches und symbolträchtiges Ereignis, bei dem eine Menge zu einer Masse wird und den Casus Belli evoziert. Einzelne und kleine Grüppchen haben sich zu einer Menge zusammengerottet, skandieren Phrasen, Parolen u.ä. („Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“), die Welle schwappt meist von hinten nach vorn.
Die Atmosphäre heizt sich auf und dann entsteht das Gefühl, die Gewissheit, dass man in dieser Vielzahl kein Verbot mehr zu fürchten hat und keine Schranken kennt. Steine fliegen, Mülltonnen oder Autos brennen, was im Wege steht wird ge- oder erschlagen. Die kollektive Energie öffnet Schleusen der Gewalt. Alle vereint die frenetische Freude, sich straflos über das Gesetz erhoben zu haben.
Die Provokation ist die Methode der Wahl, wenn ich der Gegenseite denn Vortritt zur Gewalt lassen will, um dann in dem Modus der exkulpierenden Gegengewalt mein Mütchen zu kühlen…und sie vor Dritten in Misskredit zu bringen. Es geht um die nächste Eskalationsstufe, sei es durch einen Steinwurf oder durch ein terroristisches Attentat. Provokationen stehen meist nicht am Anfang sondern am Fortgang des Gewaltprozesses mit dem Zweck, die nächste Eskalationsstufe zu überwinden.
Der Exzess ist eine Raserei um ihrer selbst willen, eruptiv und expansiv. In einer Art orgiastischer Selbststeigerung und -entgrenzung. Wie in Trance fühlt der Täter das „befeuernde“ Rattern des automatischen Gewehrs und die machtgespeiste Freude an den Schmerz- und Angstschreien der Opfer. Moral hat ausgesetzt, Bewusstsein ist im Pausenmodus und der Schwung der Gewalt schafft Genugtuung.
Auch Alex, der Protagonist in Stanley Kubricks Uhrwerk Orange von 1972 folgt dieser coolen Raserei; zu Ihrer Erinnerung: Alex vergewaltigt eine Frau, nachdem er sie in aller Ruhe mit einer Schere entblößt und währenddessen Singin’ in the Rain gesungen hat und dabei zeitgleich ihren Mann im Takt des Lieds zum Krüppel getreten und geschlagen hat.
Diesem Muster gehorcht auch der Schläger. Der Rhythmus der Schläge ergreift seine Arme, sie schlagen wie von selbst. Sie dreschen auf das Opfer am Boden ein, treten wahllos auf alle Körperteile, bis keine Bewegung mehr den Fortgang motiviert. Dann ist der Schwung verbraucht. Erschöpft lässt er von seinem Tun ab, um sein Werk zu begutachten. Er wird sich bald ein neues Opfer suchen.
Der Habitus ist die (fast unaufgeregte) Verstetigung von Gewalthandlungen. Menschen können sich an vieles, fast alles gewöhnen – so auch an ihre eigenen Gewalthandlungen. Dahinter steckt meist eine einspurige Disposition, die durch wiederkehrende Situationen gleichsam automatisch ausgelöst wird. Überlegungen und Entscheidungen sind überflüssig, der Antrieb zur Gewalt wird in die Situation selbst verlagert; der Täter muss sich nur noch nachahmen und ist mit jeder Folge mehr konditioniert.
Was der Habitus dem Einzelnen ist die kollektive Disziplin der Gruppe. Auch hier schont die Gewohnheit Verstand und Gewissen und aus dieser Gleichgültigkeit erklärt sich das notorisch gute Gewissen und die völlige Abwesenheit von Schuldempfindung bei Serientätern. In dem Spielfilm „sieben“ von 1995 zeigt Kevin Spacey in erschreckend-beeindruckender Form die Coolness eines Serienmörders, der sein Tun auch noch demonstrativ mit Ritualen überhöht.
Die Rache ist getrieben von dem Gefühl, subjektiv oder objektiv Gerechtigkeit herzustellen. Objektiv kann es bei der Vergeltung um eine „Heimzahlung“ gehen, da eine „offene“ Rechnung beglichen werden muss; subjektiv die Wiederherstellung von Selbstwert, Sicherheit oder Ehre zur Tat motivieren. Rache folgt einer altruistischen Logik: Indem man einen Missetäter nicht ungeschoren davonkommen lässt, soll das moralische Gleichgewicht innerhalb einer Gemeinschaft oder zwischen Gemeinschaften wiederhergestellt werden.
Rache kann deshalb durchaus ein rationales Verhalten sein, das von kulturellen Normen und Wertvorstellungen geleitet ist, die dem Kulturfremden als barbarisch erscheinen. In „die Rache ist süß“ kommt die emotionale Entlastung, das Hochgefühl nach erfolgter Tat zum Ausdruck. Zu unterscheiden sind noch die heiße und die kalte Rache. Die erste ist offen erkennbar, meist im direkten Bezug zum Auslöser. Die kalte Rache plant die Rückzahlung im irgendwann, wohlkalkuliert und mit Hochgenuss. Revanche und weitere Eskalation nicht ausgeschlossen – und stürzt dann nicht nur Einzelne sondern Gruppen, Organisationen, Nationen ins Unglück.
Im zweiten Band seiner Essays gegen 1580 schrieb Michel de Montaigne angesichts blutiger Bürgerkriege: “ich hätte kaum geglaubt, ehe ich es gesehen hatte, dass es so scheußliche Seelen geben könnte, die um reiner Mordlust willen Mord begehen: andere Menschen zerhacken und ihnen die Glieder abhauen; ihren Geist anspannen, um unbekannte Foltern und neue Todesarten zu erfinden“.
Über Jahrhunderte und -tausende hinweg haben sich Aggression und Gewalt mit den Menschen und Gesellschaften entwickelt, viele neue Formen kreiert und die alten beibehalten. Für den Nährboden sorgen wir selbst: Die individuellen Treiber der Aggression beginnen beim Kleinkind in den ersten 3-4 Jahren als Verteidigung von Angriffen auf das psychische Selbst(wertgefühl) und anderen spezifischen Lernerfahrungen.
Daraus kann langfristig statt emotionaler Verbundenheit und Sorge um den anderen eine pathologische Destruktivität erwachsen, die einem als unberechenbar und feindlich erlebten Umfeld geschuldet ist. Viele, die meisten Lebenswege schaffen des Parcours im Korridor des einigermaßen und rechtschaffen Normalen, manche können wiedergewonnen werden und einige gehen verloren – wie wir aus den Zahlen herleiten können, in steigendem Maße.
Zusammenfassung
Aggression ist nicht angeboren, aber verbindet sich sehr früh mit emotionalen Dispositionen, die durch Lernen und andere Umfeldfaktoren zu milder, mittlerer oder exzessiver Aggressivität werden können.
Gewalt wird durch Erfolgserlebnis, Milieu- und Gruppeneffekt gelernt und verstärkt.
Medien können bei Kindern zur Verhaltensformung der Gewalt beitragen. Der Effekt ist um so größer, je früher die Kinder dem Gewalterleben ausgesetzt sind.
Aggressivität ist nicht nur schädlich sondern auch förderlich als Treiber und Energiespender für die Selbstbehauptung und den Mut zur Veränderung.
Ein Schlüssel, wahrscheinlich der Schlüssel liegt in der Führung der eigenen Person. Dieses Lernziel ist in der Erziehung und Pädagogik absolut unterbelichtet.
Zwischen dem Wissen um Aggression und Gewalt und dem pädagogischen, soziologischen, politischen und strafrechtlichen Umgang herrscht eine große Kluft.
Vor dem Spiegel feiern wir die Zukunft, hinter dem Spiegel fürchten wir das Grauen.

Literaturempfehlungen:
Selg, Mees & Berg: Psychologie der Aggressivität, Hogrefe 1997
Nolting: Psychologie der Aggression, Rowohlt 2015
Sofsky: Traktat über die Gewalt, S. Fischer 1996
Glasl: Konfliktmanagement, Haupt 1999
Saarbrücken, Februar 2025
2 Kommentare
Limmer Joachim
https://open.hpi.de/courses/kibiases2025
Servus Rainer, haben wegen Ski-Aktivitäten deinen Vortrag verpasst, danke für die möglichkeit der Nachlese.
wenns interessiert empfehle obigen link.
herzlichst jochen
Rainer Wagner
Hallo Jochen, was heißt Ski-Aktivitäten? lang oder bergab? für meinen Artikel habe ich keine KI verwandt; hat nichts Relevantes erbracht, kann natürlich an meinem unprofessionellen Umgang mit selbiger liegen. Gruß Rainer