Funktionssysteme in Corona-Zeiten
Wir erleben heute (April 2020) eine gesellschaftliche Ausnahmesituation, die es in dieser Form und Intensität wohl nur in flächendeckenden Kriegszeiten gegeben hat – zumindest von daher ist die Metapher des Krieges für die Corona-Krise nachvollziehbar und sie verweist auf eine Analogie: seit Ende des 2. Weltkrieges hat es in Deutschland und wahrscheinlich auch in Europa nie mehr die ausschließliche Dominanz eines Funktionssystems der Gesellschaft gegeben – des Gesundheits- und Krankheitssystems. Alle anderen Systeme wie Wirtschaft, Bildung, Kultur, Sport, Religion oder Recht wurden mehr oder minder zurückgedrängt oder stillgelegt. Hatten wir in unserer bisherigen Struktur eine prinzipiell horizontale Ordnung der Gleichbedeutsamkeit der Funktionssysteme, so wurde jetzt das Primat des Individuums, flankiert von Politik und Wissenschaft, zur ultima ratio. Diese radikale Veränderung wurde mit neuen Zuschreibungen von Systemrelevanz unterfüttert. Da man bei dem radikalen Lockdown vergessen hat, eine inhaltserhaltende Kopie zu machen oder gar Konzepte zu entwickeln, wie an die Leistungsfähigkeit der lahmgelegten Funktionssysteme anzuschließen sei, sind wir alle auf das Neue gespannt, was uns der Exit vom Exit bringen wird. Wir werden befüttert mit Euphemismen wie Solidarität und Gemeinsamkeit, zu Experten ernannte Wissenschaftler ringen um die Deutungshoheit und die Politik appelliert, den Reglern und den Regeln zu vertrauen…Regelvertrauen?
Handlungsfähigkeit und Regeln
Womit haben wir es, mit der Brille des Soziologen und Sozialpsychologen betrachtet, eigentlich zu tun? Wo haben wir so massiv eingegriffen? In der Lebenswelt unseres Alltags beruht Handlungsfähigkeit darauf, dass die Menschen die natürliche und soziale Welt als geordnet, strukturiert, geregelt, nach Regelmäßigkeiten ablaufend voraussetzen. Edmund Husserl sieht die Ordnung der Welt dadurch gewährleistet, dass von vielen/allen Beteiligten sinnhafte Ordnungsleistungen produziert werden. (Ordnungs-)Leistungen, die jeder für sich vollzieht, die aber gleichzeitig kollektive Sinnzusammenhänge ergeben. Man könnte auch von aggregierten Verhaltensmustern sprechen, die in hohem Maße repetitiv sind und als vorhandene Ordnung die Grundlage sind für Herrschaft, Orientierung und Veränderung. Gesellschaft funktioniert grundsätzlich, weil und wenn wir einen Grundkonsens über deren Struktur und Ordnung haben und (den) Regeln folgen.
Was sind und was leisten Regeln?
Zu Regeln können wir uns bei Immanuel Kant kundig machen: Ordnung ist die Verbindung des vielen nach einer Regel. Und in seiner Kritik der praktischen Vernunft (1788) ist „die praktische Regel jederzeit ein Product der Vernunft, weil sie Handlung als Mittel zur Wirkung als Absicht vorschreibt. Diese Regel ist aber für ein Wesen, bei dem Vernunft nicht ganz allein Bestimmungsgrund des Willens ist, ein Imperativ, d.i. eine Regel, die durch ein Sollen…bezeichnet wird“.
Für Andreas Reckwitz, der als Soziologe die Gesellschaftserklärer wie Ulrich Beck und Heinz Bude ein wenig abgelöst hat, werden Regeln verwendet, sobald man handelt. Regeln haben eine Sinnhaftigkeit, auch wenn der Sinn dem Handelnden zu dem Zeitpunkt nicht bewusst sein muss. Über Regeln ist die soziale Welt schon sinnhaft und symbolisch vorstrukturiert, und durch Regeln wird sie zuallererst erzeugt. Regeln sind für ihn eine Art Gesellschaftsvertrag, eine normative Ordnung des Kollektivs und damit auch ein Geflecht gegenseitiger (reziproker) Erwartungen, die sich zu Rollen-Sets verdichten können.
Unterschiedliche Milieus können unterschiedliche Regeln generieren. Tun und Unterlassen ist dort verschieden! Eine Ausdifferenzierung der Gesellschaft kann die Anschlussfähigkeit der Teilnehmer an die herrschenden Regelwerke beeinträchtigen, unterminieren. Darauf wird später zurückzukommen sein.
Es gibt viele Synonyme für Regeln: Konvention, Rollenerwartung, Weltbild, Deutungsschema, Wissensbestand, Wert, Kanon, Maxime – „Woxikon“ (ein Synonym-Lexikon) weist über 400 aus.
Regelmäßigkeiten sind Deutungsmuster
Etwas anderes sind Regelmäßigkeiten: das sind Deutungsmuster eines Beobachters des (nicht nur sozialen) Geschehens, sie sind keine sinnhaften Richtlinien des Handelns – können ihnen vom Beobachter aber zugewiesen werden und ergeben sich meist aus dem repetitiven Charakter des Handelns. Erkannte Regelmäßigkeiten sind Teil eine praktischen Bewusstseins, das die Sinnhaftigkeit der Welt mitgestaltet.
Regeln sind abhängig von ihrem gesellschaftlichen Kontext und somit interpretationsbedürftig und veränderbar; wichtig für das Zusammenleben ist eine abgestimmte Interpretation der Regeln. Der gern und viel zitierte Strukturwandel ist dann eine Sinnverschiebung oder Uminterpretation von Regeln und auf diese Reise muss man die Menschen mitnehmen, wenn uns an der Interaktion mit ihnen etwas liegt.
Regeln und der Umgang mit Information
Die meisten Regeln für das Handeln sind mehr oder minder jedermann vertraut, auch wenn sie nicht immer handlungsleitend sein mögen. Erheblicher Entwicklungs- und Nachholbedarf existiert bei den Regeln zum Informationskonsum, der, wie wir wissen, im Vergleich zu vor 50 Jahren ein Vielfaches an Zeit in Anspruch nimmt. Daten aus 2019 kommen auf durchschnittlich 420 Minuten Informationskonsum am Tag; in der aktuellen Situation wird sich der Wert noch gesteigert haben.
Im Umgang mit Medien unterscheiden wir 2 Lernprozesse; einen für die Auswahl und Klassifikation von Informationen und einen zweiten für die regelgestützte Selektion und Deutung der über erreichbare Information zugänglichen Erfahrung und den darin liegenden Mehrwert. Ohne vertraute, für vertrauenswürdig gehaltene Regeln der Selektion, der Klassifikation und Interpretation ist das Individuum außerstande, die an sich strukturlose Masse der auf ihn einströmenden, in ihrem Gehalt zunächst unbestimmten Informationen nach Bedeutsamem und Belanglosen, nach Trügerischem und Verlässlichen aufzuschlüsseln.
Die Handlungsfähigkeit eines Menschen steht auf dem Spiel, wenn er sein Regelsystem nicht mehr für verlässlich erachtet. Informationen werden mehrdeutig und die Folgen, die sein Handeln haben kann, werden unbestimmt. Damit schwindet auch das Deutungspotential in die Verlässlichkeit der Bindungen zu Menschen und Institutionen, die man eingeht. Praktisch bedeutet das den Verlust von Selbstverständlichkeit, dieser emotional so wichtigen Erfahrung von Stabilität und Verlässlichkeit der Lebenswahrnehmung – und das hat Folgen.
Vertrauen und Gesellschaft
„Ich appelliere an Sie: Halten Sie sich an die Regeln, die nun für die nächste Zeit gelten“ sagte Angela Merkel am 18.3.2020 in ihrer Ansprache an die Nation und appellierte an das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Regierenden. „Dies ist eine historische Aufgabe und sie ist nur gemeinsam zu bewältigen…wir haben es zu einem großen Teil selbst in der Hand“! Wenn wir also Regeln als ein erstes, wesentliches und konstitutives Merkmal von Organisation und Gesellschaft verstehen, sind wir nun bei dem zweiten: dem Vertrauen.
Vertrauen, sagt Georg Simmel, sei eine „synthetische“ Kraft, die Gesellschaften Stabilität verleihe. Wer vertraut, hofft, dass Erwartungen erfüllt werden. „Er handelt so“, schreibt Luhmann, „als ob er der Zukunft sicher wäre.“ Vertrauen überbrückt also Informationsde?zite und steuert Handlungen auf eine Weise, dass Komplexität nicht länger als Sicherheitsproblem wahrgenommen wird. Vor allem komplexe, unübersichtliche und di?erenzierte gesellschaftliche Ordnungen gewinnen ihre Stabilität durch Vertrauen, weil Vertrauen die Risiken kompensiert, die man eingeht, wenn man ein Nichtwissen kompensiert. Vertrauen unterbindet sozialen Autismus, blendet Ambivalenz aus und ermöglicht den Aufbau stabiler Interaktionsordnungen als Voraussetzungen sozialen Handelns. „Vertrauen ist eine eigenartige Überzeugung, die nicht auf Beweisen, sondern auf einen Mangel an Gegenbeweisen gründet–eine Eigenschaft, die es für mutwillige Zerstörung anfällig macht.“
Vertrauen ist die „soziale Ressource“
Wenn wir im Alltag auf die Pünktlichkeit der öffentlichen Verkehrsmittel, auf die Treue des Ehemanns und die Unparteilichkeit von Schiedsrichtern vertrauen oder darauf, dass uns der Himmel nicht auf den Kopf fällt, dann handelt es sich im psychologisch-wissenschaftlichen Sinne um verschiedene Formen von Vertrauen bzw. um Vorformen des eigentlichen Vertrauensbegriffs, der bei Luhmann zur Anwendung kommt: Um Vertrautheit (der Himmel fällt uns nicht auf den Kopf) und um persönliches Vertrauen (das Vertrauen in den treuen Ehemann) einerseits sowie um Zuversicht bzw. Systemvertrauen andererseits (öffentliche Verkehrsmittel sind zuverlässig, ebenso Schiedsrichter).
Vertrautheit ist die Grundlage für Vertrauen und für Misstrauen, ja sie ist die Grundvoraussetzung dafür, dass wir uns überhaupt in der Welt zurechtfinden. Vertrautheit ist die „alltägliche Lebenswelt“, gespeist aus den Erfahrungen von Vergangenheit bis Gegenwart – „ich weiß das!“
Vertrautheit ist gestern
Eine vertraute Welt ist einfach und durch enge Grenzen gesichert. In dieser Welt dominiert die Vergangenheit über die Gegenwart und Zukunft. Dadurch, dass es in der Vergangenheit keine „anderen Möglichkeiten“ mehr gibt, lösen sich mögliche Probleme und Fragestellungen durch die Zeit, da die Vergangenheit unerwartetes Verhalten einfach ausschließt. Auch die Religion hat (für Niklas Luhmann) die Funktion, die rechte Ordnung als normativ vorzugeben und zugleich als vertraut und der menschlichen Disposition entzogen vorauszusetzen. Vertrautheit ist ein emphatisches Überzeugtsein.
Der Vertrautheit entgegen steht die Fremdheit. Fremdheit ist die Verneinung des Erwartbaren. Der oder das Fremde operiert in diesem Sinne über die Verneinung des Erwartbaren, des Vertrauten. Er ist damit noch kein Feind, denn Feindschaft gegenüber Freundschaft ist der eher vertraute Antagonismus. Der oder das Fremde kann jedoch das Vertraute in Unordnung bringen. Lebensweltliche Vertrautheit entsteht damit durch (teilweise rigorosen) Ausschluss von Fremdheit über soziale Prozesse; der Ausschluss bietet Sicherheit und damit Angstreduktion.
Vertrauen ist morgen
Vertrauen ist im Gegensatz zur Vertrautheit in die Zukunft gerichtet und kommt immer dann zum Tragen, wenn aufgrund einer nicht behebbaren Ungewissheit eine Entscheidung getroffen werden soll. Die Vorleistung besteht darin, dass wir, wenn wir vertrauen, uns nicht gänzlich auf die Vorerfahrungen und auf das vergangenheitsorientierte Wissen verlassen können, sondern diese Informationen willentlich überstrapazieren, also „überziehen“ müssen, um den Sprung ins kalte Wasser des unergründbaren Vertrauens zu wagen. Umgekehrt ist ein Vertrauen völlig ohne Vorabinformationen auch kaum möglich; irgendeinen Anhaltspunkt benötigen wir, um die Vertrauenswürdigkeit einer Person oder eines Systems zu bestätigen. Riskant ist die Vergabe von Vertrauen deshalb, weil „der Schaden beim Vertrauensbruch größer sein kann als der Vorteil, der aus dem Vertrauensbeweis gezogen wird“ schreibt Luhmann. Bei Vertrauen muss also immer etwas auf dem Spiel stehen – sonst wäre Vertrauen nicht nötig. Dieses Etwas muss aber als Risiko kalkulierbar und reflektiert sein. Ansonsten handelt es sich um die Einschätzung einer Gefahr, der mit bloßer Hoffnung oder Zuversicht begegnet wird. Liegen ausreichend vollständige Informationen vor, benötigen wir kein Vertrauen, wir können aufgrund der vorhandenen Informationen unsere Entscheidung treffen. Lässt sich also ein Risiko vollständig berechnen, benötigen wir kein Vertrauen mehr.
Misstrauen ist Skepsis
Misstrauen ist eher nicht das Gegenteil von Vertrauen, obwohl wir es im alltäglichen (Sprach)Gebrauch so behandeln sondern vielmehr ein funktionales Äquivalent von Vertrauen. Wer nicht vertraut, misstraut nicht automatisch sondern trifft nur keine risikoreichen Entscheidungen. Man sollte immer zwischen Vertrauen und Misstrauen wählen können: im Falle von Misstrauen wird nicht nur nicht risikoreich entschieden sondern man muss sich auch noch gegen den erwarteten Vertrauensmissbrauch wappnen. Ist Misstrauen erst einmal vorhanden, so wird es erheblich schwieriger, sich wieder auf Vertrauen einzulassen – Misstrauen kann zu einem negativ-selbstbestätigenden Prinzip werden und sich dann auf die Erfüllung der negativen Einstellung fixieren. Jede Kleinigkeit erhält Beweischarakter für das Misstrauen („Othello“). Mehr zum Thema Vertrauen findet sich hier.
Drei Formen sozialer Ordnung und Regelvertrauen
Über den Stellenwert von Vertrauen in Organisation und Gesellschaft ist viel geforscht und publiziert worden. Neben der theoretischen Einordnung von Niklas Luhmann hat u.a. Barbara Misztal mit ihrem Trust in Modern Societies eine kluge Einordnung geliefert. Sie unterscheidet drei verschiedene Formen sozialer Ordnung, für die Vertrauen jeweils eine spezifische Funktion erfüllt: Stabilität umfasst die Fragen der Zuverlässigkeit und Vorhersagbarkeit des Sozialen, Kohäsion basierend auf normativer Integration, und schließlich Kollaboration, die sich auf Fragen der sozialen Kooperation bezieht. Der Stabilitätsaspekt sozialer Ordnung hat wesentlich mit dem Regelvertrauen zu tun, auf das wir uns im Folgenden kaprizieren werden. Unter dem kohäsiven Aspekt sozialer Ordnung verknüpft Barbara Misztal Vertrauen mit Familiarität, freundschaftlichen Bindungen sowie gemeinsamen Werthaltungen (Passion), während in Bezug auf Kollaboration Vertrauen als eine gesellschaftlich-politische Haltung beschrieben wird, die daraufhin zielt, Solidarität, Toleranz und gegenseitigen Respekt zu ermöglichen und unkooperative Einstellungen abzuschwächen (Policy).
Regelvertrauen als Alltagsbegleiter
Regelvertrauen ist das gelernte und/oder kulturell erworbene Wissen über ein Handeln, das durch eigene Erfahrung und durch das vergleichbare Handeln anderer bestätigt wird. Regelvertrauen ist ein Kanon von Verhaltensweisen, deren Handhabung und Einhaltung wir mit anderen teilen. Dieses andere kann eine Beziehung (Dyade), eine Gruppe, eine Organisation oder die Gesellschaft sein. Idealiter sind diese Regeln durchgängig für alle sozialen Einheiten, was dem Vertrauen in die Regeln und deren Einhaltung besonders dienlich wäre. Andererseits kann man mit „eigenen“ Regeln bewusste Unterscheidungsmerkmale herstellen und eine gewünschte, abgrenzende Identität herstellen (Jugendkult u.ä.).
Dieses auf Regelvertrauen basierende Verhalten ist alltagsrelevant und sehr ökonomisch (im Sinne von aufwandsreduziert), da es vertrauenswürdige Entscheidungen vorgibt: im Straßenverkehr gilt, wenn nicht anders beschildert, rechts vor links; in Einbahnstraßen kann nichts entgegenkommen; im öffentlichen Nah- und Fernverkehr machen jüngere Menschen einen Sitzplatz frei, wenn deutlich ältere Menschen sonst keinen Platz finden. So können Regeln auch ein Substitut von Moral werden oder sein. Gelebtes Regelvertrauen geht davon aus, dass man das Verhalten des anderen vorhersagen kann, da Verbindlichkeit gegeben ist und man sich, zumindest in Großbritannien, an dem Platz in der Schlange einordnet, der durch die Ankunft bestimmt ist. Je nach persönlichem Reifegrad ist regelvertrautes Handeln dann konditioniert und unhinterfragt oder pragmatisch-einsichtsvoll mit allen denkbaren Varianten der mehr oder minder Reflektion dazwischen. Regelvertrauen ist ein sozialer Vertrag, der auf gelebter Erfahrung und sozialen Normen basiert.
Umgang mit Regelvertrauen
Die Gestaltung der Beziehungen zu den uns umgebenden Funktionssystemen und das Zusammenleben basieren im Idealfall auf Regeln, die konsensuell sind, das Gemeinsame fördern (um einen aktuell mal wieder stark strapazierten Euphemismus zu nennen) und, zumindest in modernen westlichen Gesellschaften Chancengleichheit bieten. Eine Störung/Verletzung des Regelvertrauens zieht eine oder mehrere Reaktionsweisen nach sich:
- Ich behandle die Störung als einmalig, Ausnahmefall, kann ja mal vorkommen, dumm gelaufen, auf keinen Fall absichtlich
- Ich werde alles daran setzen, dass dies nicht wieder vorkommt und entsprechende oder vorbeugende Maßnahmen ergreifen (Anzeige, Demo, Petition, alternative Verhaltensweisen…)
- Ich fühle mich hilflos, gehe aus dem Felde, Resignation
- Ist für mich nicht mehr gültig, ist sowieso blöd, suche was Neues, suche meinen Vorteil, suche Verbündete dagegen.
…am Beispiel Straßenverkehr
Solchen Regelverstößen begegnen wir in unserem Alltag immer wieder. Der Straßenverkehr als Feld mit hoher Regelungsdichte bietet da viele Beispiele. Warum ist an den Einfahrten zu Hauptstraßen und Autobahnen die größte Unfallhäufigkeit? Glauben Sie dort noch an Ihre Vorfahrt oder weichen Sie nach links aus (mit Blick in den Rückspiegel)? Warum wächst kontinuierlich die Zahl der Menschen, die der Einhaltung der Regeln (natürlich) anderer Verkehrsteilnehmer nicht trauen?
…am Beispiel Fußball
Nehmen wir den Realitätsbereich des Sportes und hier in Sonderheit den Profi-Fußball. Immer mehr wird investiert, um die Einhaltung der Regeln (halbwegs) gewährleisten zu können: 1 Schiedsrichter, 2 Assistenten, 1 Spielbeobachter, Videobeweise… und Spieler, die Fouls und Elfmeter schinden wollen, entsprechendes Fallen üben (nicht jede Schwalbe wird erkannt), Neymarisierung allenthalben. Wer bei einem enteilten Gegenspieler nicht die „Notbremse“ zieht gilt als Weichei, der clevere Regelbrecher hat den Vorteil. Fairness war mal. Wer wundert sich da noch über die gewaltbereiten und -tätigen Fans? Das nennt man in der Entwicklungspsychologie „modelling“ – wenn die Vorbilder es vormachen.
Regeln haben Eigensinn
Wir kennen den Korpsgeist einer Gruppe, einer Mannschaft, einer Organisation und ihren (Ehren)Kodex, der festlegt was wie zu sehen und zu handhaben ist. Die Inklusion (das dabei sein wollen) ist das Versprechen und die (Sicherheits)Leistung, wie man es noch viel stärker in mafiösen Strukturen erleben kann. Omertà, ursprünglich die Vergewisserung, dass man seine Dinge selbst regelt, wurde zu einer Art von Schweigegelübde („never open your mouth, unless you’re in the dentists chair“, Sammy Gravano) der inneren Sicherheit für den einzelnen und die Organisation, durch die man sich und seine Familie gesichert sah. Und auch die Mitglieder eines Möchordens sind sich sicher, alle den gleichen Regeln zu folgen; Gleichklang als Bestätigung.
Regeln sind Behinderung
Regeln werden meist gebrochen, um sich persönliche oder Wettbewerbsvorteile zu verschaffen oder um zukünftige Entwicklungen zu antizipieren. Wenn alle in vorgezeichneten Bahnen laufen, ist die Abkürzung der Weg für den Ersten. Dies kann hilfreich sein, wenn es allen hilft und konflikthaltig werden, wenn immer der Hase der Dumme gegen den Igel ist – eine wunderbare Parabel!
Rule Breaker reden dann von Disruption, die notwendig ist, um Neues zu schaffen. In Politik, Wirtschaft und Organisation ist die Kunst der Führung, Menschen auf diesem Weg mitzunehmen und die Inhalte des alten Regelvertrauens durch neue zu ersetzen. Innovation, Kunst und manchmal die letzte Rettung kann darin bestehen, aus dem Kanon der Regeln auszubrechen, um Neues zu schaffen.
Jean Piaget, der große Entwicklungspsychologe, hat hier klug zwischen zwei Lernprozessen unterschieden: den der Assimilation, bei dem neue Erfahrung in eine da seiende oder schon immer vorgegebene (Intelligenz)Struktur, ein vorhandenes Schema integriert werde und Akkomodation, die vorhandene Schemata durch neue verfügbare Wissens- und Erfahrungsbestände verändert oder neu erfindet. Was sich etwas akademisch anhört, ist je nach Persönlichkeit (hier beschrieben als gedankliche Risikobereitschaft und die Fähigkeit, uneindeutige Situationen ertragen zu können) eine große Herausforderung, mit dem „Fremden“ umzugehen.
Regeln sind Manipulation
Macht macht Regeln und wird besonders gern genutzt, um sich den Mantel der Rechtschaffenheit umzuwerfen. Josef K. ist „Gegenstand“ eines Willkürreglements, dem er glaubt vertrauen zu müssen. Aktuell soll ein Buch lesen auf Bänken nicht erlaubt sein und aus dem jüngst erlassenen Gesetz zur Abmilderung der Pandemiefolgen versucht der eine oder andere eine Entpflichtung von Mietzahlungen abzuleiten. Eine besonders perfide Form der Interaktion mit Menschen ist „double bind“, bei der zwei gegensätzliche Anforderungen, Aufforderungen, Angebote eingesetzt werden, um Gefolgschaft oder Unterwerfung zu erzielen: Norm setzen und Ausnahme fordern; gleichzeitig zwei Botschaften vermitteln (z.B. verbal vs nonverbal), die sich gegenseitig ausschließen, oder „ machen Sie sich nicht so viel Arbeit, aber ich will eine exzellente Präsentation haben, die jeden, aber auch wirklich jeden, überzeugt!“ Das ist Missbrauch von Vertrauen ohne Rücksicht auf die Folgen.
Die Klasse macht den Unterschied
Andreas Reckwitz hat eine ebenso interessante wie umfassende Kartografie der (deutschen) Gegenwart vorgelegt. Die neue Mittelklasse (überwiegend Akademiker in wissensbasierten Berufen, Großstädter) hat ihre Werte in Wirtschaft, Politik und Medien als herrschend etabliert. Die alte Mittelklasse (Handwerker, Facharbeiter, mittlere Bildungsabschlüsse, Kleinstadt) vermisst Sicherheit und Anerkennung. Die prekäre Serviceklasse wächst (zahlenmäßig) und wer nicht mithalten kann in der neuen „Wissensökonomie“, findet sich schnell auf einer sozialen Rutschbahn wieder. Dies folgt einer gesellschaftlichen Veränderung von den 1980er bis hin zu den 2010er Jahren, in denen Entgrenzung und Deregulierung dominant war: neoliberal eine Deregulierung der Ökonomie, linksliberal eine Deregulierung der Kultur und Freisetzung der Individuen bis hin zum Hedonismus. Neue, eher opportunistische und situative Formen des Umgangs mit Regeln haben die alte und die Serviceklasse eher abgehängt; die Basis für ein gesamtgesellschaftliches (inhaltlich identisches oder ähnliches) Regelvertrauen ist viel kleiner geworden.
Eine Gesellschaft benötigt deshalb Regeln, weil ohne sie das Leben einsam, arm, kümmerlich, roh und kurz sein würde – schrieb Thomas Hobbes 1651 in seinem Leviathan. Erst durch Regeln würden die Freiräume festgelegt, in denen jeder seinen eigenen Weg gehen könne. Das haben wir nun hoffentlich einigermaßen begründet.